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Dugin und der Krieg

Welche Rolle hat die russische extreme Rechte bei der völkermörderischen Expansion Moskaus in die Ukraine gespielt?

Ein häufiger Protagonist journalistischer Untersuchungen tiefer Ursachen für Moskaus jüngste Außenpolitik ist der extravagante russische Ideologe Aleksandr Dugin. Langbärtig, mit sonorer Stimme und extrovertiert ist Dugin ein telegener Redner, der den Stereotyp eines archetypischen russischen Philosophen erfüllt. Er kann für seine Zuhörer unterschiedliches sein – ein moderner Dostojewski, rechter Trotzki, orthodoxer Mönch, zweiter Rasputin oder alternativer Tolstoi.

Dugin ist ein belesener Polyglott, der sich in mehreren Sprachen ausdrücken kann. Er kennt sich aus in Sozialtheorie, esoterischer Literatur und normativer Philosophie. Seine politischen Ansichten stützen sich auf ein buntes Panoptikum von Ideen – von Samuel Huntingtons Zivilisationstheorie bis zu Aleister Crowleys Satanismus, von linksextremem Syndikalismus bis zu rechtsextremem Traditionalismus, von erzreaktionären Prinzipien bis zu radikal nonkonformistischen Ideen.

Dugin wurde als Konservativer, Marxist, Imperialist, Fundamentalist, Geopolitiker und vieles mehr bezeichnet. Die meisten dieser Bezeichnungen sind auf die eine oder andere Weise zutreffend, aber für sich genommen ungenau. Zur Bezeichnung seiner eigenen Ideologie hat Dugin neue Konstrukte eingeführt wie „Neoeurasismus“ oder „Vierte Politische Theorie“, um Leser in Russland und darüber hinaus zu beeindrucken.

Darüber hinaus ist Dugin ein einnehmender Redner und Gesprächspartner. In Konferenzen, Talkshows und Interviews wirkt er klarsichtig, wortgewandt und schlagfertig. Er bekennt freimütig seine extrem nihilistische Position. Dugin ruft offen zu einer weltweiten antiliberalen Revolution auf, sagt das Ende der internationalen Ordnung voraus und erklärt bereitwillig die Gründe seiner Abscheu für den Westen.

In den 1990er Jahren präsentierte sich Dugin unverhohlen als Faschist. Er lobte wiederholt Vertreter des deutschen Nationalsozialismus und dessen Verbündete. In letzter Zeit hat Dugin jedoch Abstand davon genommen, öffentlich Sympathie für den historischen europäischen Faschismus zu bekunden. Stattdessen gibt er sich jetzt als „Antifaschist“ aus.

Die Textproduktion Dugins und seiner verschiedenen Think-Tanks in den letzten 35 Jahren war enorm. Dugin und Co. haben Dutzende von Büchern in verschiedenen Sprachen veröffentlicht, Hunderte von Artikeln geschrieben und Tausende von schriftlichen, Audio- oder Video-Statements in einer Vielzahl russischer und nicht-russischer Medien, öffentlicher Foren und sozialer Netzwerke verbreitet. Der außergewöhnliche Umfang, die zahlreichen Übersetzungen und die schwindelerregende Menge von Dugins Äußerungen – und nicht so sehr deren begrenzte Tiefe, fragwürdige Qualität und manchmal bizarren Inhalte – haben ihn berühmt gemacht.

Dugin wird heute rund um die Welt als ein gewichtiger Vertreter des zeitgenössischen russischen politischen Denkens wahrgenommen. Seine öffentliche Omnipräsenz, bellizistischen Verlautbarungen und rhetorischen Fähigkeiten haben viele Beobachter dazu veranlasst, ihn als einen oder gar den Vordenker hinter der Wiedergeburt des russischen Imperialismus und antiwestlichen Wende Moskaus zu sehen. In den letzten 15 Jahren wurde Dugin u.a. als „Putins Gehirn“ und als „gefährlichster Philosoph der Welt“ bezeichnet.

Die Rolle Dugins in der neuen Aggressivität des Kremls im Allgemeinen und dem russisch-ukrainischen Krieg im Besonderen ist jedoch komplizierter. Anders als oft dargestellt, ist Dugin weder ein intellektuell innovativer Philosoph noch ein Ideologe mit direktem Zugang zum Kreml. Er gibt sich gern als beides aus und wird von seinen russischen und nicht-russischen Anhängern als tiefsinniger Denker mit Verbindungen zu Russlands Führung gepriesen. Merkwürdigerweise nehmen auch einige seiner Kritiker diese Behauptungen für bare Münze.

Dugins philosophische Äußerungen und politische Ideen sind jedoch lediglich russische Übersetzungen oder Reformulierungen verschiedener älterer nicht-russischer antirationaler und antiindividualistischer philosophischer Diskurse. Wer mit klassischer Geopolitik, integralem Traditionalismus, internationalem Okkultismus, der deutschen Konservativen Revolution, dem französischen Postmodernismus, der europäischen Neuen Rechten sowie einigen anderen alternativen Denkschulen vertraut ist, dürfte beim Lesen Dugins ständige Déjà-vu-Erlebnisse haben.

Rezipienten, die mit den exaltierten Konzepten von Dugins Vorbildern aus der Vor-, Zwischen- und Nachkriegszeit nicht bekannt sind, mögen ihn als einen originellen russischen Philosophen wahrnehmen. Doch was er als seine „neo-eurasische“ oder „vierte“ Theorie verkündet, ist meist von umstrittenen oder/und marginalen Theoretikern und Philosophen des verhassten Westens abgekupfert. Dugins Sammelsurium nihilistischer Phantasien, faschistischer Träume und totalitärer Pläne enthält wenig Neues für Erforscher des nicht-russischen Ultranationalismus, Antidemokratismus und Illiberalismus.

Ein ähnlich verbreitetes Missverständnis betrifft den häufig behaupteten direkten Einfluss Dugins auf politische Entscheidungsfindung in Russland. Zwar haben einige Personen aus dem Umfeld Putins, wie seine langjährigen KGB-Kollegen Wiktor Tscherkesow und Wladimir Jakunin, nachweislich Interesse an Dugins Schriften gezeigt.

Auch verwiese Putins berüchtigter zweiter Mann, Sicherheitsratssekretär Nikolai Patruschew, in einem Interview einmal auf die geopolitischen Ideen von Sir Halford Mackinder. Patruschew hat von dem britischen Geographen möglicherweise über Dugin erfahren, der den umstrittenen Welterklärer in den 1990er Jahren in Russland populär machte. Mackinder hatte Anfang des 20. Jahrhunderts behauptet, dass derjenige die Welt beherrschen wird, der das so genannte „Herz-“ oder „Kernland“, d. h. das Gebiet Russlands, kontrolliert.

In der Vergangenheit nahmen einige von Dugins extremen Äußerungen die heutige Rhetorik der Propagandisten des Kremls vorweg. Im Jahr 2014 rief Dugin etwa in einer berüchtigten Videopräsentation die Russen dazu auf, Ukrainer „zu töten, zu töten, zu töten“. Im Jahr 2015 verkündete er: „Der Krieg ist unsere Heimat, unser Element, unsere natürliche und ursprüngliche Umgebung, in der wir lernen müssen, effektiv und siegreich zu existieren.“ Auch andere ältere Äußerungen Dugins erschienen einst als empörend, klingen aber heute in Russland zeitgemäß.

Dennoch sollte die zunehmende Kongruenz zwischen dem Duginschen Diskurs und der Kremlrhetorik, insbesondere seit 2022, nicht überinterpretiert werden. Eine wachsende Nähe ist offensichtlich. Sie reicht aber nicht aus, um direkte Kausalität zwischen Dugins Ideen und Putins Politik zu behaupten. Dugin hat in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass er die Entwicklung des postsowjetischen Russlands besser vorhersah als viele akademische Forscher. Er war aber eher ein Prophet und Förderer als ein direkter Anstifter oder Anführer dieser Tendenzen.

Dugin und seine Anhänger haben seit den 1990er Jahren freilich zu einer zunehmenden Vergiftung des russischen öffentlichen und intellektuellen Diskurses mit manichäischen, verschwörungstheoretischen und eschatologischen Ideen beigetragen. Ihre Geschichten über eine uralte Feindschaft des Westens gegen Russland, den unvermeidlichen Endkampf zwischen traditionellen Land- und liberalen Seemächten, die Unterwanderung der russischen Gesellschaft durch ausländische Mächte usw. haben zur Radikalisierung von Putins Regime und Politik beigetragen. Dabei wurden Dugin und seine Anhänger von Dutzenden anderer reaktionärer, faschistischer, rassistischer und ultranationalistischer russischer Schriftsteller und Kommentatoren unterstützt.

Gemeinsam haben sie etwas Ähnliches vollbracht wie die deutsche so genannte Konservative Revolution in der Weimarer Republik der Zwischenkriegszeit. Anstatt Parteien, Politiker, Bürokraten und Diplomaten direkt zu beeinflussen, haben sie eine Atmosphäre geschaffen, in der gewaltsame Unterdrückung im Innern und bewaffnete Aggression nach außen selbstverständlich erscheinen. Nur wenige russische Entscheidungsträger wiederholen Dugins Ideen wortwörtlich und noch weniger haben seine Bücher gelesen. Angesichts Dugins früherer Bekenntnisse zum Faschismus haben nur ausgewählte russische Beamte zugegeben, von ihm beeindruckt zu sein.

Nichtsdestotrotz bereitete die russische extreme Rechte als Ganze Russlands antiwestlicher Wende im Jahr 2007, Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2014 und Großinvasion im Jahr 2022 mit vor. Dugin und ähnliche rechte Trommler haben mehr als drei Jahrzehnte lang unermüdlich imperialistische, ultranationalistische und paranoide antiwestliche Ideen geäußert. Als Putin vor 15 Jahren seine Abkehr vom Westen verkündete, vor bald 10 Jahren die Krim annektierte und vor fast zwei Jahren einen großen Krieg begann, brauchte vielen Russen nicht erklärt zu werden, warum Moskau dies angeblich tun muss. Russlands extreme Rechte, mit Dugin als ihrem philosophischen Patriarchen, hatte dies bereits Jahre zuvor getan.

 

 

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Andreas Umland

Andreas Umland

Dr. Andreas Umland studierte Politik und Geschichte in Berlin, Oxford, Stanford und Cambridge. Seit 2010 ist er Dozent für Politologie an der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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