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In guter Verfassung? 65 Jahre Fünfte Französische Republik

Transmission, révolution, action“. Überlieferung, Revolution, Aktion – unter diesem Motto lieferte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am 4. Oktober 2023, dem 65. Jahrestag des Inkrafttretens der Verfassung der Fünften Französischen Republik, im französischen Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel) vor einem hochkarätigen französischen und europäischen Publikum, in dem auch der Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts nicht fehlte, eine beachtete, fast dreiviertelstündige Rede, ja nahezu Vorlesung, in der er die historische Bedeutung der Verfassung sowohl für die Erneuerung der französischen Institutionen als auch für die politische Stabilisierung Frankreichs heraufbeschwor. Angesichts der sich in den vergangenen Jahren in Frankreich mehrenden gesellschaftlichen Fieberausbrüche, die das Land unter Macrons Präsidentschaft erschüttert haben, diente diese Rede auch der erneuten Legitimierung der staatlichen Ordnung. Das Jubiläum selbst liest sich wie eine Zwischenbilanz und drückt die Absicht der französischen Exekutive aus, sowohl das geltende Verfassungswerk zu bekräftigen als auch Kompromissbereitschaft in Hinblick auf Erneuerungs- bzw. Aktualisierungsbegehren walten zu lassen.

So langlebig wie die Fünfte Republik war bislang in der Geschichte des französischen Republikanismus nur die Dritte Republik gewesen, die immerhin trotz chronischem Krisenzustand und parlamentarischer Instabilität den Ersten Weltkrieg überdauert hatte, um schließlich nach schwierigen Zwischenkriegsjahren mit der nationalen Katastrophe von 1940 im Zweiten Weltkrieg unterzugehen. Die Vierte Republik wies mit ihrer schwachen Exekutivgewalt zum Teil ähnliche Geburtsfehler auf, wie die vorige, gegen deren Wiederentstehung mehr als 96% der Franzosen in der Volksbefragung von Oktober 1945 stimmten. Der bereits mit Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzende Dekolonisierungsprozess im französischen Kolonialreich – Madagascar, Indochina, Algerien… – stellte Frankreich bald vor Herausforderungen, denen die politischen Institutionen nicht gewachsen waren. Dementsprechend gestaltete sich die Geburtsstunde der Fünften Republik als ein Moment äußersten Krisenzustands, den der Algerienkrieg hervorgebracht hatte. Nachdem Frankreich schon 1954 den Verlust seiner südostasiatischen Kolonien hatte hinnehmen müssen, und die Suez-Krise im Herbst 1956 den Entscheidungsträgern in Paris (und in London) vor Augen geführt hatte, wie drastisch deren Durchsetzungsvermögen im Zeitalter der Supermächte geschrumpft war, erwies sich das Unabhängigkeitsbegehren der Algerier für den französischen Staat als unzumutbar. Demzufolge konnte offiziell auch nicht von Krieg die Rede sein, denn Algerien war Bestandteil des französischen Territoriums. Also galt in der offiziellen Sprachregelung ausschließlich die Bezeichnung: „Ereignisse in Algerien“.

Die Ereignisse gerieten allerdings außer Kontrolle. Als der Spuk eines möglichen Staatsstreichs vonseiten eines Teils der französischen militärischen Führung immer deutlicher wurde, sah sich die Exekutive genötigt, einen Weg aus der politischen Sackgasse zu finden. Staatspräsident René Coty bat General Charles de Gaulle, eine neue Regierung zu bilden; der respektierte Chef des französischen Widerstands im Zweiten Weltkrieg nutzte die Gelegenheit, um dem Land unter Beibehaltung der republikanischen Ordnung („Glauben Sie im Ernst, dass ich mit 67 Jahren eine Karriere als Diktator beginnen möchte?“) eine neue Verfassung zu geben.

Die wesentlichen Züge der 1958 eintretenden, neuen Verfassungsordnung sind trotz mehrerer Teilrevisionen im Laufe der vergangenen 65 Jahre erhalten geblieben. Dies betrifft insbesondere die Form der Gewaltenteilung und vor allem die entscheidende Rolle des Staatspräsidenten. Dies lag übrigens dem Wunsch de Gaulles nach einer neuen Verfassung zugrunde: Die neuen Befugnisse des Staatsoberhaupts waren auf die Person und das Staatsverständnis des Generals zugeschnitten und standen in dieser Hinsicht in starkem Kontrast zu dem, was seit 1946 gegolten hatte. Nunmehr gehörten zum Kompetenzbereich des Präsidenten u.a. die Grundorientierung der Außenpolitik sowie der Oberbefehl über das Militär. Als Frankreich ab Mitte der 1960er Jahre zum Mitglied des engen Kreises der Atommächte wurde, oblag ihm nunmehr auch das Entscheidungsrecht über die Verwendung der Atomwaffen, wodurch er in der allgemeinen gesellschaftlichen Wahrnehmung als Herr über den sprichwörtlichen „roten Knopf“ galt. „Die nukleare Monarchie“ – so lautete der Titel eines 1986 erschienenen Buchs des französischen Politikwissenschaftlers Samy Cohen. Zwar fiel das Fazit nüchterner aus, als vom Titel ersichtlich sein mochte. Immerhin aber entsprach dies der Perzeption vieler Beobachter (und Kritiker) der französischen Verteidigungspolitik im In- und Ausland.

Das Hauptanliegen de Gaulles galt jedoch in erster Linie der politischen und gesellschaftlichen Stabilisierung des Landes, einer Grundbedingung für den schweren und schwerwiegenden Prozess der Dekolonisierung, den der General pragmatisch als unaufhaltbar betrachtete, doch den internationalen langfristigen Interessen Frankreichs gemäß mitgestalten wollte. Er war allerdings auch der erste maßgebende Politiker und Staatsmann, der angesichts der sich abrupt wandelnden Weltordnung die Umgestaltung Frankreichs bei gleichzeitigem Betreiben einer „Politik der Größe“ in die Wege leitete. Dadurch stellte er sich gewissermaßen als Erbe einer bis zur Französischen Revolution zurück reichenden Tradition des Cäsarismus, der in der französischen Geschichte ein wiederkehrendes Machtmuster darstellte: In unruhigen Zeiten wurde mangels effizient funktionierender ziviler Entscheidungsinstanzen die Macht an einen Mann der Stunde aus dem Militär übergeben, der die Rolle des Retters der Nation einnahm. Den Urtyp dieses Motivs stellte natürlich Napoleon, doch es fehlte nicht an anderen geglückten oder gescheiterten Beispielen historischer Persönlichkeiten, denen die Franzosen in kollektiver Not das höchste Amt anvertrauten. Unter ihnen befand sich auch derjenige, der die Dritte Republik zu Grabe getragen hatte und dessen Name mit einem der dunkelsten Kapitel der französischen Geschichte verbunden bleibt: Marschall Philippe Pétain, der Gründer des Vichy-Regimes.

Etwas überspitzt formuliert könnte man also behaupten, dass die Verfassung von 1958 für eine Nation geschaffen wurde, die im Laufe der vorangehenden 150 Jahre ein kompliziertes Verhältnis der Hassliebe zu den Mächtigen entwickelt hatte. Trotz der tatsächlich in den 1960er Jahren eintretenden politischen und institutionellen Stabilität war selbst de Gaulle nicht gefeit gegen diesen Hang zum Wandel, der 1968 im Lande (wie auch in anderen, nicht nur westlichen, politischen Systemen der Nachkriegszeit) einen Generationenwechsel einläutete. Als er knapp ein Jahr nach den Streiks und Studentenprotesten von „Mai 68“ das negative Ergebnis einer Volksbefragung zur Reform des Senats als persönliche Absage an seine Politik wertete und von seinem Amt zurücktrat, bedeutete dies noch lange kein Ende seines Einflusses auf die französischen Institutionen und die Führung des Landes. In wesentlichen, strategischen Aspekten der Staatspolitik und der Gestaltung der französischen Außenpolitik blieben der Geist des Gaullismus und der lange Schatten des Generals auch unter der Präsidentschaft der meisten seiner Nachfolger wahrnehmbar. Und selbst der Sozialist François Mitterrand, einer seiner größten politischen Gegner, machte sich später als Präsident (1981-1995) Vieles von de Gaulles politischem Erbe zu eigen.

Emmanuel Macron, der mit seiner Bewegung La République en marche! 2017 die Präsidentschaftswahlen gewann und im Zuge der darauffolgenden Parlamentswahlen eine tiefgreifende Umschichtung der Parteienlandschaft in Frankreich bewirkte, hat trotz großer Reform- und Modernisierungsansprüche mit Projekten, von denen sich ein Teil der Bürger gerade im Bereich der Sozialpolitik mitunter vor den Kopf gestoßen fühlt(e), wiederholt auf das Gebot der Stabilität der Institutionen gepocht. Da seine neue Partei anfangs auf eher schwachen Strukturen basierte, stützte sich die von ihm eingeleitete Politik sehr stark auf sein Leadership als Präsident. In dieser Hinsicht war ihm die Verfassung der Fünften Republik besonders dienlich. Macron war sich dessen bewusst und kündigte auch an, als Präsident den „Jupiter“ geben zu wollen – den Stellvertreter einer starken Exekutive im Sinne der Tradition der Gaullistischen Republik. Nun haben die fünf Jahre seiner ersten Kadenz u.a. infolge der heftigen Protestwelle der Gelbwestenbewegung (2018/2019) den im Mai 2022 zum zweiten Mal gewählten Präsidenten zwar nicht um seine Ambitionen für Frankreich gebracht, doch zumindest dazu genötigt, zu erkennen, dass er trotz der Hoffnung, die viele Franzosen angesichts seiner neuartigen Wahlkampagne 2017 geschöpft hatten, den Jupiter nun doch eher ablegen sollte.

Die staatliche Inszenierung des 65. Jubiläums der Fünften Republik war also in mancher Hinsicht eine Geste der Selbstversicherung. Und selbst Macrons Vorhaben, Verfassungsänderungen – u.a. durch die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in das Verfassungswerk – in die Wege zu leiten, zeugen eher von einem taktischen Versuch, den Text dem Zeitgeist anzupassen, ohne jedoch Wesentliches zu ändern. Letzten Endes entspricht sein Wunsch, als Präsident eine Spur in der Verfassungsgeschichte zu hinterlassen, einem immerhin nach wie vor sehr gaullistischen Verständnis des höchsten Amtes der République.

 

 

 

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Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

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