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Kriegszustand

Von Krieg lässt sich nicht so erzählen, dass die Leser verstünden, wie er wirklich ist. Aureliusz M. Pędziwol spricht mit Wolodymyr Schejko, einem der Autoren des Buches „Kriegszustand“.

Aureliusz M. Pędziwol: Einer der Autoren des Buches „Kriegszustand“ [Vojennyj stan, hg. v. Jevhenija Lopata, Černivci: Meridian Czernowitz, 2023] erfreut sich ziemlicher Prominenz. Verfasser des Vorwortes ist nämlich General Walerij Saluschnyj, bis vor kurzem noch Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine. Wieso wurde gerade er für das Vorwort gewonnen?

Wolodymyr Schejko: Das geschah, weil wir in der Ukraine alle der ukrainischen Armee dankbar dafür sind, dass wir normal leben, Texte schreiben und für den Sieg der Ukraine arbeiten können, so wie es jeder von uns vermag. Es ist ein Symbol, dass das Vorwort von General Saluschnyj stammt, denn es bedeutet, dass unsere Arbeit, die Arbeit von Leuten aus dem Kulturbereich, zur gesamtnationalen Kriegsanstrengung gehört und zum Sieg in diesem Krieg beiträgt.

Wovon handeln die in dem Buch versammelten Essays?

Von verschiedenen in diesem Krieg gemachten Erfahrungen. Erfahrungen, die entweder die Autoren selbst gemacht haben oder ihre Bekannten.

Was für welche zum Beispiel?

Jurij Andruchowytsch1 schreibt davon, dass wir zwar das Kommen des Kriegs ahnten, uns aber keine Vorstellung davon machten, welches Leid er der Ukraine bringen würde.

Trotz acht Jahren Kriegs im Donbas?

Ja, trotz dessen. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, welche Zerstörungen der Krieg verursachen würde. Andruchowytsch zufolge konnte niemand ein derartiges Ausmaß der Gewalt gegen die Ukrainer voraussehen, obwohl wir schon vieles während des Kriegs gesehen hatten, der 2014 begonnen hatte. Tamara Duda2 beschriebt die außerordentliche Gastfreundschaft ganz fremder Menschen, die Flüchtlingen aus der Ostukraine halfen. Das war auch ihre eigene Erfahrung, denn sie verließ damals Kyjiw und versuchte, sich in die Westukraine durchzuschlagen. Anschließend schrieb sie, welches Wunder es für sie war zu entdecken, dass was immer mit dir geschieht, du Leute findest, die dir helfen. Larysa Denysenko3 beschreibt, wie nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine umgehend Verhaftungen von Lehrern, Schriftstellern und Journalisten begannen… Generell von Intellektuellen. Um sie zu ersetzen, wurden Leute aus Russland geschickt, zum Beispiel Lehrer, die jetzt ukrainischen Kindern eine völlig andere, auf den Kopf gestellte Geschichte der Ukraine beibringen.

Befindet sich unter den Autoren von „Kriegszustand“ auch Oksana Sabuschko?

Ja, Oksana Sabuschko4 schreibt, wie Schemata der Kindererziehung, Schemata der Bildung und der Hochschulbildung in der russischen Gesellschaft zu einem völlig anderen Weltverständnis geführt haben. Sie schreibt davon, wie die russische Propaganda im eigenen Land damit erfolgreich gewesen ist, gewöhnliche Russen zu Hass gegen die Ukrainer anzustacheln, sie von der Überlegenheit der russischen Nation zu überzeugen und letztlich die Invasion der Ukraine zu rechtfertigen.

Und Serhij Schadan?

Serhij Schadan5 ist auch mit dabei. Er beschreibt seine Erfahrungen als Volontär und meint, wir müssen eine neue Sprache finden, um all das zu beschreiben, was mit uns passiert ist. Die Worte, derer wir uns jetzt bedienen, passen seiner Meinung nach nicht mehr, weil sich damit nicht die Erfahrungen in diesem Krieg ausdrücken lassen. Wir müssen neue Worte finden, um eine Erzählung der eigenen Geschichte an Menschen anderer Sprachen zu vermitteln, die in anderen Kulturen leben.

Das Buch wurde auch auf Englisch veröffentlicht, aber in der Ukraine. Ist es auch irgendwo im Ausland erschienen?

Ich glaube nicht.

Ist geplant, es auch in Polen zu veröffentlichen?

Davon weiß ich nichts. Die ersten Exemplare hier sind aus Tscherniwzi/Czernowitz mitgebracht worden.

Die Texte sind nicht einfach nur Berichte über den Krieg, zum Beispiel von den Straßen in Butscha?

Es handelt sich nicht eigentlich um Erzählungen von der Gewalt und Grausamkeit dieses Krieges, sondern eher um persönliche Gedanken. Manchmal mag es einem sogar so vorkommen, als seien sie allzu weit von der Wirklichkeit im Krieg entfernt, aber sie hängen tatsächlich direkt mit den verschiedenen Kriegserfahrungen der Autoren zusammen.

Aber wenn ich mich schon an die Lektüre mache, dann finde ich dort auch Gewalt und Grausamkeit?

Ich denke, in diesen Geschichten finden sich auch sehr brutale und sehr traurige Abschnitte. Aber auch Augenblicke voller Hoffnung. Den Autoren ging es nicht darum, den Leser zu schockieren, auf ihn Eindruck zu machen. Es sind Versuche, wahrhaftig von dem zu erzählen, wie der Krieg von den Menschen empfunden wird, wie sie ihn in so vielen verschiedenen Situationen und Umständen erfahren.

Sie werden dort Passagen finden, die Sie lieben werden. Es gibt sehr traurige Stellen. Aber auch solche, mit denen sich meiner Auffassung nach jeder identifizieren kann, weil es darin um Familie, Sicherheit, Hoffnung und Verzweiflung geht. Und ich denke, dass genau dieses das Buch wirklich wertvoll macht, weil es von vielen universellen Dingen, von universellen Gefühlen erzählt. Der Krieg steht natürlich im Hintergrund, aber das ist ganz bestimmt keine fotografische Aufnahme, die nur schockieren soll.

Das Buch enthält Texte von 35 Autoren. Natürlich will ich Sie nicht dazu bringen, von allen zu sprechen. Aber bitten sagen Sie doch noch ein paar Worte zu einem davon, nämlich sich selbst. Was haben Sie erzählt?

Ich habe geschrieben, es lasse sich vom Krieg nicht so erzählen, dass andere Menschen ihn verstehen könnten, wenn sie ihn nicht selbst erlebt haben. Dass wir ihnen einen Bruchteil dieser Erfahrung vermitteln können, aber nicht die ganze Erfahrung. Und dass wir, die Ukrainer, so wie die Bosnier, die Georgier, die Tschetschenen und die Syrer, mit dieser Tragödie eigentlich allein dastehen werden, trotz der Unterstützung, Solidarität und Hilfe, welche die Ukrainer bisher erfahren haben. Wir werden damit existentiell immer allein bleiben.

Wollen Sie damit sagen, dass jemand, der den Krieg nicht selbst erfahren hat, ihn nicht verstehen kann, indem er zum Beispiel Remarques „Im Westen nichts Neues“ liest oder sich eine Verfilmung davon anschaut?

Wie ich gesagt habe, ich denke, dass wir nur einen ganz kleinen Teil davon verstehen können. Am Ende werden Filme und Bücher über diesen Krieg zu Unterhaltung. Die Leute werden sie zum Vergnügen anschauen und lesen, nicht um das Wesen des Kriegs zu begreifen.

Ich meine aber, dass zumindest einige Leser mit Empathie auf diese Art Literatur reagieren.

Aber ja doch, was ich sage, soll nicht heißen, dass ihnen die Empathie fehlt. Ich möchte sagen, dass unabhängig vom Grad Ihrer Empathie Sie nicht imstande sein werden, jemandes anderen Erfahrung in diesem Krieg zu verstehen, wenn Sie das nicht selbst durchgemacht haben.

Und dass ich die Shoah nicht verstehen werde, wenn ich die Erinnerungen von Überlebenden lese?

Ich glaube ja. Es lässt sich vom Prinzip her verstehen, was die Shoah war. Aber ich denke, dass wir uns die persönliche Erfahrung der Überlebenden niemals werden aneignen können.

Ein interessanter und trauriger Gedanke.

Vielleicht. Ja schon. Ja, traurig.

 

Das Buch „Kriegzustand“ (ukr. Vojennyj stan) erschien gleichzeitig auf Ukrainisch und Englisch in dem Verlag Meridian Czernowitz in Tscherniwzi/Czernowitz, einer Stadt in 60 Kilometer Entfernung von dem Punkt, an dem die Grenzen der Ukraine, Rumäniens und Moldawiens zusammentreffen. Es ist eine Anthologie von 35 Essays ukrainischer Autorinnen und Autoren über ihre Erfahrungen mit der russischen Invasion. Alle diese Geschichten und viele weitere sind im Internetauftritt des Verlags im ukrainischen Original wie in der englischen Übersetzung aufzufinden. Das Buch wurde erstmals außerhalb der Ukraine auf dem diesjährigen Wirtschaftsforum in Karpacz (Krummhübel in Niederschlesien) vorgestellt, in einem Gespräch von Bogumiła Berdychowska von der Vierteljahresschrift „Więź“ mit Wolodymyr Schejko.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Wolodymyr Schejko

Seit 2018 Direktor des Ukrainischen Instituts in Kyjiw, einer öffentlichen Einrichtung, die dem ukrainischen Außenministerium untersteht und mit der Kulturdiplomatie und der Förderung der ukrainischen Kultur in der Welt befasst ist. Vorher Direktor der Abteilungen für ukrainische Kunst sowie von fünfzehn Südosteuropäischen und Osteuropäischen Staaten und Zentralasiens beim British Council sowie PR-Manager dieser Einrichtung.

Aureliusz M. Pędziwol Autor bei DIALOG FORUMAureliusz M. Pędziwol, Journalist, arbeitet mit der polnischen Redaktion der Deutschen Welle zusammen. Er war 20 Jahre lang Korrespondent des Wiener WirtschaftsBlattes und für zahlreiche andere Medien tätig, darunter für die polnischen Redaktionen des BBC und RFI.

 

 

 

 

1Jurij Andruchowytsch – Prosaist, Dichter, Essayist, Übersetzer. Gründer der Dichtergruppe Bu-Ba-Bu. In deutscher Übersetzung erschienen von ihm unter anderem: Radio Nacht. Roman. Ein Gegenwartsroman von eminenter Aktualität, Berlin: Suhrkamp, 2024 (im Erscheinen); Der Preis unserer Freiheit. Essays 2014 bis 2023, Berlin: Suhrkamp, 2023; Die Lieblinge der Justiz. Parahistorischer Roman in achteinhalb Kapiteln, Berlin: Suhrkamp, 2020; Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik, Berlin: Insel, 2016. Für den Roman „Zwölf Ringe“ (Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 2005) erhielt er 2006 den Leipziger Buchpreis, der für ein um die europäische Verständigung verdientes Werk verliehen wird.

2Tamara Duda – Schriftstellerin. Debütierte mit dem Roman „Tochter“ 2019 (dt. Ausgabe: Jena: Mauke, im Erscheinen), den sie unter dem Pseudonym Tamara Horicha Sernia schrieb. Damit schaffte sie es 2021 in einer Abstimmung des Ukrainischen Buchinstituts auf eine Liste der dreißig wichtigsten Prosawerke seit Beginn der Unabhängigkeit der Ukraine, und 2022 bekam sie für den Roman den höchsten ukrainischen Kulturpreis, den Taras-Schewtschenko-Nationalpreis.

3Larysa Denysenko – Juristin, Menschenrechtsaktivistin, Journalistin und Schriftstellerin. In deutscher Übersetzung ist ihr Kinderbuch erschienen: Alle meine Freunde, Hamburg: Rotfuchs, 2022.

4Oksana Sabuschko – Schriftstellerin und Dichterin, Preisträgerin des von der Stadt Breslau verliehenen Mitteleuropäischen Literaturpreises „Angelus“, den sie 2013 gemeinsam mit der Übersetzerin Katarzyna Kotyńska für ihren Roman „Museum der aufgegebenen Geheimnisse“ erhielt (dt. Ausgabe: Museum der vergessenen Geheimnisse. Roman, Graz: Droschl, 2010).

5Serhij Schadan – Schriftsteller und Dichter, Verfasser von „Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg“ (Berlin, Suhrkamp: 2022).

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