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„Am besten noch bei einem guten Abendessen darüber klagen, dass die Ungebildeten die AfD wählen“

 

Kaja Puto: Die deutschen Medien berichteten nach der Silvesternacht von einer Reihe von Vorfällen mit Feuerwerkskörpern. Ist das ein neues Problem?

Urszula Ptak: Das Problem gibt es seit Jahren, aber es hat neue Ausmaße angenommen. Vor einem Jahr wurde ein Bus angezündet und ist ausgebrannt, in diesem Jahr gab es Explosionen, die an sieben Wohnhäusern erhebliche Schäden verursacht und mehrere Personen schwer verletzt haben. Dass Einsatzdienste wie Polizei, Feuerwehr und Notarzt angegriffen werden, ist bereits Normalität, ebenso wie Angriffe auf Ärzte in der Notaufnahme.

Handelt es sich dabei um die Hardcore-Straßenfeste, die wir beispielsweise von den Demonstrationen am 1. Mai in Berlin kennen, oder muss in diesen Ereignissen mehr gesehen werden?

Am 1. Mai sind linke Gruppen unterwegs und zünden Autos und Mülltonnen an. Ihr revolutionärer und antikapitalistischer Elan hat in den letzten Jahren nachgelassen, vielleicht sind sie einfach alt geworden. In der Silvesternacht gehören die Straßen jungen Männern mit Migrationshintergrund.

Nur ihnen?

Die Bilanz der Berliner Silvesternacht beläuft sich auf 670 Festnahmen, wovon 264 Personen Ausländer sind und 406 Deutsche. Doch es ist eine Liste mit den Vornamen der deutschen Täter in die Medien durchgesickert, und diese Liste beginnt mit: Abdul, Kerim, Abdulhamid, Abdulkadir, Abdullah, Ali usw., es handelt sich dabei also um Personen mit Migrationshintergrund, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Es ist zu Tage getreten, was ohnehin für alle, die in diesem Land leben, offensichtlich ist, und zwar trotz der Blockade von Informationen über Gewaltprobleme unter Migranten in den Mainstream-Medien, die im Sinne der linken Ideologie betrieben wird: die Vermeidung von Stigmatisierung sozialer Gruppen mit Migrationshintergrund.

Wäre es besser, ganzen Gruppen die kollektive Verantwortung zuzuschreiben und damit fremdenfeindlichen Stereotypen Vorschub zu leisten?

Die fremdenfeindliche Stimmung ist genau durch diese Vermeidung von Informationen über die Herkunft von Tätern stärker geworden. Jeder weiß, wen man auf der Straße meidet, in welche Regionen man sich lieber nicht begibt, um welche Plätze man einen weiten Bogen macht, aber kaum jemand nennt das Problem beim Namen. Die AfD nutzt dies aus und giftet in den sozialen Medien. Hinzu kommt, dass die Täter derartiger Gewaltakte selbst Videos ins Netz stellen, in denen sie stolz ihre Taten zeigen. Zwei sind mir besonders in Erinnerung geblieben.

In dem ersten schießt ein arabischer Influencer eine Silvesterrakete in eine Wohnung, in dem zweiten freuen sich syrische junge Männer, dass in Berlin ebensolche Explosionen stattfinden wie in ihrem Heimatland. Der Influencer wurde am Flughafen festgenommen und wartet auf seinen Prozess, er hat sich bei der Familie, in deren Wohnung die Rakete explodiert ist, entschuldigt. Jetzt hat die Polizei einen Siebzehnjährigen identifiziert, der in Tegel eine Kugelbombe auf eine Gruppe Menschen geworfen haben soll. Die Opfer haben schwere Verbrennungen erlitten, die bleibende Behinderungen zur Folge haben.

In deiner Presseschau in den sozialen Medien berichtest du auch von Gewalt an deutschen Schulen und in Sporteinrichtungen, beispielsweise in Schwimmbädern. Ist das ein weiteres Kapitel des gleichen Problems?

Das ist das gleiche Problem und es sind die gleichen sozialen Gruppen. Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder Migrant Gewalt liebt, aber leider verstehen viele nur diese Sprache. Gewaltfrei zu erziehen, Kindern zu erklären, dass man die anderen nicht schlagen darf, dass es sich lohnt, sich bei anderen zu entschuldigen – das sind keine angesagten Themen in manchen arabischen Familien. Dabei muss hervorgehoben werden, dass die Opfer dieser Gewalt nicht selten andere Migranten sind, insbesondere ungehorsame Frauen, die beispielsweise im Schwimmbad einen Badeanzug tragen oder ohne Kopftuch in die Schule gehen. Als Lehrerin war ich Zeugin derartiger Situationen. Die Mädchen werden gedemütigt und es wird ihnen vorgeworfen, sich in Europa, das für das Böse steht, zu sehr zu integrieren.

Wie reagiert die deutsche Gesellschaft darauf?

Der in politisch-korrekter Rhetorik gefangene deutsche Mainstream reagiert angesichts des Ausmaßes dieser Art von Problemen betroffen. Es wird öffentlich dazu aufgefordert, das Problem nicht hochzuspielen, dabei ist den Mainstream-Kreisen selbst vollkommen klar, in welche Schule sie ihr eigenes Kind nicht schicken würden. Viele Vertreter von progressiven und die Migration befürwortenden Kreisen wissen, welche Mitschüler für ihr Kind unangenehm und nicht förderlich für dessen Entwicklung sind. Das Ergebnis ist, dass die ganze Last der Bemühungen um Integration auf die armen Bezirke fällt und auf Kinder, deren Eltern nicht zu der Bubble der Besserverdienenden gehören. Ich selbst lebe in einem besseren Stadtbezirk, in dem die Grünen gewählt werden, deshalb sehe ich diese „Gleichheitstänze“ aus der Nähe. Am besten noch bei einem guten Abendessen darüber klagen, dass die Ungebildeten die AfD wählen. Ähnlich ist es in Warschau, wo die Kinder progressiver Wähler auf Privatschulen oder freie Schulen geschickt werden, damit sie nicht mit dem polnischen „Plebs“ in Berührung kommen. Das ist ein Klassen-Problem. Martin Luther hat gesagt: Sie predigten Wasser und tranken Wein.

Aber warum sind diese Jugendlichen eigentlich gewalttätig? In deiner bewegenden Reportage von 2018 hast du psychische Probleme beschrieben, die geflüchtete Kinder wegen Kriegstraumata haben, aber auch politische und ethnische Konflikte, die sie in die Schule tragen. Das erklärt sicherlich nicht alles, denn das Problem tritt auch bei in Deutschland geborenen Jugendlichen auf. Wo können Erklärungen dafür gefunden werden? Geht es um unterschiedliche Vorstellungen von den Grenzen dessen, was erlaubt ist? Oder handelt es sich um Abneigung gegen den deutschen Staat?

Traumata sollen eine Erklärung für alles sein, merkwürdigerweise hört man aber nichts von den Traumata ukrainischer Kinder, von denen es sehr viele in den Schulen gibt. Diese Kinder bringen ihre Lehrbücher in die Schule mit, sie haben Hefte und Stifte, sie lernen Deutsch und abends haben sie auch noch online Unterricht auf Ukrainisch. Irgendwie schaffen sie das, obwohl sie oft allein sind mit einer gestressten Mutter, die ja selbst die Schwierigkeiten der Integration bewältigen muss.

Bei allem Respekt für die schwierige Lage ukrainischer Kinder – sie sind mit dem Zug nach Deutschland gekommen, und nicht mit einem Schlauchboot, ihre Mütter haben automatisch eine Aufenthalts- und eine Arbeitserlaubnis erhalten, und der Charakter des Konfliktes, vor dem sie geflohen sind – also wer hier Aggressor und wer Opfer ist – ist für die deutsche Gesellschaft relativ klar. Und Ukrainern wird auch nicht so viel Abneigung entgegengebracht wie Menschen aus dem Globalen Süden…

Da muss ich dir widersprechen. Eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis haben sehr schnell zum Beispiel auch die Syrer erhalten, obwohl nicht alle aus dem Konfliktgebiet kamen, sondern zum Beispiel aus der Türkei, aus Ägypten und aus vielen anderen Ländern. Außerdem sind Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland nicht gern gesehen, es gibt sehr viele kritische Stimmen über diese Migration, und zwar in einem recht scharfen Ton, in dem diese Personen nie über Menschen aus dem sogenannten Globalen Süden sprechen würden. Es ist einfacher, weiße Frauen aus Europa anzugreifen als jemanden mit dunkler Hautfarbe. Außerdem gibt es in Deutschland starke russlandfreundliche Kreise, das spielt ebenfalls eine große Rolle.

Das ändert aber nichts daran, dass unter arabischen und türkischen Kindern es eher Mode ist, sich vom Deutschsein abzuwenden, auch unter denen, die bereits in Deutschland geboren sind. Das einzige Gut, das wohl alle haben wollen, ist der deutsche Pass, die Kultur weckt kein Interesse.

„Eher“? „Wohl“? Ich glaube nicht, dass in den vielen Jahren, in denen Debatten über Integration geführt werden, Soziologen das nicht untersucht haben. Wenn es nicht die Traumata sind, was sind dann die Ursachen für Entfremdung und Gewalt?

Auf diese Frage gibt es mehr als eine Antwort. Migration ist ein emotional sehr schwieriger Prozess. Jemand, der in einer Kultur mit bestimmten Wertvorstellungen, Normen und Stilen sozialisiert ist, muss sich mit einer anderen Kultur und einer anderen Sprache auseinandersetzen. Die westliche Zivilisation stellt hohe Anforderungen, es gibt bei uns nicht viel Arbeit, die jemand machen kann, der keinerlei Ausbildung hat, die Straßen und die Menschen sehen anders aus, die Gesellschaft hat andere Normen und einen anderen Verhaltenskodex. Das ist ein extrem anspruchsvoller Prozess. Viele Menschen kommen damit nicht zurecht, sie bleiben unter sich und leben so, als hätten sie ihr Land nicht verlassen. Die Deutschen sind ihnen fremd, und ihre Kinder erziehen sie im Geiste der Loyalität ihren Herkunftsländern gegenüber. Ich möchte daran erinnern, dass Erdoǧan in Deutschland mehr Unterstützung bekommen hat als in der Türkei. Um das zu ändern, muss man hart an sich selbst arbeiten. Das kann nicht jeder und das will nicht jeder.

Hätte der deutsche Staat etwas besser machen können – abgesehen von der Selbstzensur, die du bereits erwähnt hast?

Ich habe nicht die deutsche Staatsbürgerschaft und ich habe nicht vor, den Deutschen ihr Land zu gestalten. Ich beschreibe das, was ich sehe. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Kernpunkt des Problems in der Integration auf dem Arbeitsmarkt besteht und in der Änderung der Sozialpolitik. Das schlägt sich bereits in den Wahlprogrammen aller Parteien nieder.

Könnte sich durch das Erstarken der AfD und die zunehmende fremdenfeindliche Stimmung das Problem verschärfen? Werden sich Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht immer fremder fühlen?

Intuitiv würde ich sagen, ja. Aber bisher habe ich zu diesem Thema keine Untersuchungen gesehen.

In den deutschen Medien wird im neuen Jahr viel diskutiert über ein potenzielles Böllerverbot. Ich habe nicht den Eindruck, dass das hilfreich wäre, vor allem weil Kugelbomben, die am problematischsten sind, in Deutschland nicht erlaubt sind, sie werden in anderen EU-Ländern verkauft. Was denkst du darüber?

Ich glaube nicht, dass eine parlamentarische Mehrheit zustande kommt, die eine solche Vorschrift durchbringen würde.

Und welche anderen Aspekte wurden noch in der Debatte über die Silvesternacht angesprochen?

Zum Glück hat man aufgehört, das Problem der Kriminalität unter Menschen mit Migrationshintergrund zu vertuschen. Das lässt sich einfach nicht mehr verheimlichen, denn das Problem ist zu groß. Es fehlt allerdings an Untersuchungen dazu, wie die Pandemie Einfluss auf die Gewalteskalation genommen hat. Mit bloßem Auge ist zu sehen, dass sich das verschlimmert hat. Die jungen Menschen waren monatelang ohne schulische Kontrolle, verbrachten viel Zeit auf der Straße und haben bis heute enorme Lernlücken. Oft waren ihre Eltern nicht in der Lage, ihnen zu helfen, weil sie selbst kein Deutsch können.

Sind in dieser Debatte auch Stimmen von Migranten zu hören, beispielsweise von Migranten-Organisationen?

Ich habe nicht gehört, dass sie in diese Sache einen Standpunkt formuliert hätten. Migranten sind unterschiedlich, sie stammen aus verschiedenen Ländern und sind in Deutschland nicht besonders organisiert. Privat höre ich von Migranten, dass sie entsetzt sind über das Ausmaß der negativen Vorfälle. Schließlich werden es diejenigen ausbaden müssen, die gut integriert sind, die normal leben wollen, die wollen, dass ihre Kinder Bildungschancen bekommen und so weiter. Solche Menschen haben Angst, dass sie für die Ausschreitungen von ein paar Gruppen kollektiv verantwortlich gemacht werden. Und ich befürchte leider, dass ihre Angst berechtigt ist.

Das heißt?

Die Zahl feindseliger Übergriffe auf Migranten steigt, besonders nach dem Attentat in Magdeburg. Jemand wurde in der U-Bahn angespuckt, einer Frau wurde das Kopftuch heruntergerissen. Solche „Verteidiger des Deutschseins“ greifen ja keinen muskulösen Zwanzigjährigen an, der zurückschlagen würde. Angegriffen werden zufällige Personen, die als schwächere Elemente ausgemacht werden.

Und wie siehst du diese Probleme als Lehrerin, die jahrelang beobachten konnte, wie sie herangereift sind? Wie sollte mit Kindern und Eltern gearbeitet werden?

Ich unterrichte weiterhin Migranten, aber ich arbeite nicht mehr in einer staatlichen Schule. Das ist nichts für meine Nerven. Kinder sind aggressiv, weil ihre Eltern aggressiv sind, das überträgt sich alles auf die Altersgenossen. Die Schule hat die Aufgabe, Bildungsdefizite auszugleichen, sie ist nicht in der Lage, das zu tun, weil die Zahl der Kinder, die Probleme haben, zu groß ist. Ein Kind, das zu Hause Deutsch spricht und Eltern hat, die in der Lage sind, die Hausaufgaben für Klasse vier zu verstehen, lernt anders als ein Kind, das zu Hause keine Unterstützung bekommt, weil die Eltern nicht einmal wissen, wie man sich in eine Liste einträgt. Am Ende ist niemand zufrieden, die guten Schüler werden vernachlässigt, und den schwächeren kann man nicht das Mindeste beibringen. Im Endeffekt werden bei allen die Ergebnisse systematisch schlechter. Schaue ich heute zurück, fällt mir auf, dass der mehrjährige Terror des nicht-Benennens von Integrationsproblemen aufgrund falsch verstandener politischer Korrektheit eine wesentliche Ursache für die wachsende Beliebtheit von rechtsextremen Parteien und die stärker werdende migrantenfeindliche Stimmung ist. Hinzu kommt, dass niemand mehr den öffentlichen Medien glaubt. Auf Deutsch sagt man: „wie bestellt, so geliefert“. Das ist das Scheitern von Angela Merkel und ihrem politischen Lager. Ironischerweise nimmt jetzt, im Wahlkampf, ihre Partei, die CDU, Einfluss auf den Zustrom von Migranten. Wir erleben nun, wie man Probleme schafft, um sie dann heldenhaft zu lösen. Die AfD will die Grenzen zu Polen schließen, und auch die CDU beginnt, davon zu sprechen. Es werden Veränderungen kommen, und zwar drastische.

 

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller

 

Das Gespräch wurde zuerst von der Krytyka Polityczna (Politische Kritik) veröfentlicht.


Urszula Ptak

Urszula Ptak

Urszula Ptak, Absolventin der Schlesischen Universität, lebt und arbeitet seit über 20 Jahren in Berlin. Sie beschäftigt sich mit der Integration von Migranten und der deutschen Politik. Sie ist Preisträgerin des Deutsch-Polnischen Journalistenpreises.

 

Kaja Puto, Publizistin und Redakteurin, spezialisiert sich auf die Themenbereiche Osteuropa und Migration. Sie schreibt u.a. für die Zeitschrift „Krytyka Polityczna“ und für n-ost – The Network for Reporting on Eastern Europe.

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Gespräch

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Ein Gedanke zu „„Am besten noch bei einem guten Abendessen darüber klagen, dass die Ungebildeten die AfD wählen““

  1. Meiner Meinung nach durchaus eine zutreffende Analyse! Dahinter steht die Frage, wieso es zu so einer bedenklichen Entwicklung gekommen ist. War die bisherige angedachte und praktizierte Migrationspolitik seitens der Bundesrepublik Deutschlands richtig? Wobei diese Frage nichts mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus u. ä. zu schaffen hat, zumindest aus meiner Sicht.
    Dass eben diese kritikwürdige Situation dazu führen soll, die Grenzen nach Polen zu schließen, habe ich so noch nicht vernommen. Grenzkontrollen ja, Schließung nein!
    Die Grenzen nach Polen und auch andere Grenzen zu Deutschland zu schließen, wäre ein großer Fehler und darf nicht passieren, jetzt nicht und auch späterhin nicht!

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