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Ist Europa in Ost und West gespalten?

Eine Diskussion der Körber Stiftung mit der französischen Journalistin Sylvie Kauffmann (Le Monde), dem polnischen Philosophen und Politologen Marek Cichocki und Michael Link, Mitglied des Bundestages.

 

Körber Stiftung: Nach dem Deutsch-Polnischen Barometer will die Mehrheit sowohl der Deutschen als auch der Polen mehr europäische Integration. Gibt es also doch keine Spaltung zwischen dem Osten und dem Westen Europas?

 

Link: Ich glaube nicht, dass es eine geographische Spaltung gibt, sondern eine zwischen Werten und politischen Ansichten. Das lässt mich hoffen, denn es bedeutet, dass wir politische Debatten und Prozesse beeinflussen können. Deshalb ist es auch so wichtig, welche Parteiengruppe die Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Jahr gewinnt.

 

Kauffmann: Das sehe ich auch so. Wir haben uns sehr daran gewöhnt, eine schematische Aufteilung in Populisten in Mitteleuropa und liberale Demokratie im Westen vorzunehmen, aber heute gibt es doch populistische und nationalistische Bewegungen in der gesamten EU.

 

Körber-Stiftung: Herr Cichocki, die meisten Deutschen glauben, Polen trägt zu den Spannungen in Europa bei und ist kein verlässlicher Partner.

Körber-Stiftung/Bartlomieji Sawka

Cichocki: Die Deutschen sind schon seit vielen Jahren kritisch zu Polen eingestellt. Die Polen sind nicht immer mit der deutschen Politik einverstanden, sehen aber die deutsche Gesellschaft insgesamt doch positiv. Ich meine aber auch, die Ost-West-Spaltung ist eine überholte Denkweise. Die wichtigste Herausforderung für Europa sind die wachsenden Ungleichheiten zwischen Regionen und innerhalb der Gesellschaften. Die größte auf die europäische Integration gerichtete Hoffnung war, sie würde Ungleichheiten vermindern. Heute scheint es aber so, als ob sozioökonomische Verhältnisse und politische Ansichten weiter auseinanderdriften.

 

Körber-Stiftung: Frau Kauffmann, wieso treten diese unterschiedlichen Wahrnehmungen gerade jetzt in Erscheinung?

 

Kauffmann: Die große EU-Erweiterung ist schon wieder fünfzehn Jahr her, und jetzt sind wir Zeugen einer Krise der EU-Erweiterung. Die Flüchtlingskrise hat offensichtlich werden lassen, dass wir die Dimensionen der Erweiterung unterschätzt haben. Zum Beispiel wollten die Gründungsstaaten mit Blick auf das Nationskonzept, dass die EU den Nationalstaat vor dem Hintergrund unserer von Kriegen geprägten Geschichte überwinden solle. Dagegen wollten die mitteleuropäischen Mitgliedsstaaten nach 1989 wieder an ihre nationale Identität anknüpfen. Wie sollen wir damit umgehen?

 

Körber-Stiftung: Herr Link, wird der Vorschlag der EU-Kommission, die Zuteilung von EU-Mitteln von der Einhaltung rechtsstaatlicher Bedingungen das Bekenntnis zu den Grundwerten stärken oder eher die Spaltung vertiefen?

 

Link: Wir sollten niemals in Frage stellen, dass Polen und andere Länder einen Anspruch auf diese Mittel haben. Andererseits müssen wir auf der Einhaltung der europäischen Grundwerte bestehen. Vielleicht könnte die tatsächliche Auszahlung der Mittel verzögert werden, solange der Europäischen Kommission noch Fälle von Grundrechteverletzungen zur Beurteilung vorliegen. Das würde selbstverständlich für jeden Mitgliedsstaat gelten und nicht nur für einzelne Regierungen.

 

Körber-Stiftung: Herr Cichocki, gibt Deutschland hier den Moralprediger?

 

Cichocki: Ich möchte nicht verallgemeinern, aber Deutschland hat eine Neigung dazu.

 

Link: Vielleicht ist einer der größten Fehler von Frau Merkel, dass sie, anders als Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, nie wirklich vermocht hat, die Dinge einmal aus der Sicht unserer Nachbarn zu sehen. Aber ich erwarte andererseits auch von unseren Nachbarn, sich einmal auf unseren Standpunkt zu stellen. Die Äußerungen der gegenwärtigen polnischen Regierung über deutsche Reparationsleistungen bringen da nicht weiter. Wir müssen den Standpunkt der anderen respektieren und kompromissbereit sein.

 

Cichocki: Ich kann die Argumente gegen die Reparationszahlungen nachvollziehen. Jedoch sind die meisten Polen der Meinung, die Nachbarländer würden nicht wirklich anerkennen, was ihr Land insbesondere im Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat. Das können wir nicht ignorieren. Ich pflichte dem völlig bei, was Herr Link über die europäische Integration gesagt hat. Und doch sollten wir meiner Meinung nach die Entscheidungsprozesse in der EU wieder innerhalb ihres traditionellen institutionellen Systems stattfinden lassen. In jüngster Zeit hat informelles Krisenmanagement überwogen. Insbesondere die Mitgliedsstaaten dieser Region [d.h. in Ostmitteleuropa; A.d.Ü.] machen sich Sorgen, wenn sich zwei Regierungschefs irgendwo treffen und vorab entscheiden, welche Richtung in Sachfragen einzuschlagen ist, die vitale nationale Interessen berühren, bevor sich noch alle Mitgliedsländer zur Diskussion zusammengefunden haben.

 

Körber-Stiftung: Frau Kauffmann, trägt das deutsch-französische Tandem zur Fragmentierung bei?

 

Kauffmann: Das deutsch-französische Tandem ist Teil der Lösung, aber wir haben an Schwung eingebüßt wegen der endlosen Koalitionsgespräche nach den Bundestagswahlen [blickt auf Michael Link und lacht]. Wenn wir eine gemeinsame Verteidigungs‑ und Sicherheitspolitik entwickeln wollen, müssen Frankreich und Deutschland eine gemeinsame strategische Vision finden. Aber es gibt dagegen Widerstand seitens anderer Mitgliedsländer. Europa ist atomisiert, während wir doch fester zusammenstehen sollten als jemals zuvor.

 

Körber-Stiftung: Sollte Frankreich mehr Anstrengungen unternehmen, seine Verbindungen zu Ländern wie Polen zu stärken?

 

Kauffmann: Selbstverständlich! Aber wie ist Polens Sicht auf die Außenpolitik? Aus verständlichen Gründen hatte Polen immer sehr enge Beziehungen zu den USA. Doch ist Präsident Trump dabei, die Gleichung grundsätzlich zu verändern. Das hat auch Auswirkungen auf Polens Beziehungen zu seinen europäischen Partnern: Können wir eine gemeinsame Position gegenüber den USA finden?

 

Link: Wir sitzen hier im Weimarer Format zusammen. In diesem Format treffen sich Gleichrangige, und es ist von zentraler Bedeutung für die EU. Es gibt offenkundig Unterschiede zwischen den Regierungen, aber wir sind aufeinander angewiesen. Sonst werden rechtsradikale Parteien wie die AfD oder Le Pens Rassemblement National weiter wachsen.

 

Körber-Stiftung: Herr Cichocki, sehen Sie Potential im Weimarer Dreieck?

 

Cichocki: Das Potential hängt davon ab, ob die drei Länder bereit sind, von gleich zu gleich miteinander umzugehen, wie Michael Link gesagt hat. Im Prinzip ist es eine gute Idee, diese Länder zusammenzubringen. Aber während es immer klar war, dass Deutschland und Polen Partner sein wollten, verfolgte Frankreich immer einen anderen Ansatz zur EU-Erweiterung und zu Mitteleuropa. Daher hängt die Zukunft des Dreiecks von der weiteren Entwicklung der polnisch-französischen Beziehungen ab. Sie hängt auch davon ab, ob andere Länder anerkennen, dass Polen nicht nur ein Empfänger von Wohltaten der europäischen Integration ist, sondern auch dazu beiträgt, beispielsweise in Sachen Sicherheit an der Ostgrenze. Das wird oft aufgrund unserer Haltung in der Migrationspolitik verneint. Wir werden nicht immer die Erwartungen anderer erfüllen, aber Solidarität sollte auch bedeuten, dass sie trotzdem den polnischen Beitrag anerkennen.

 

Kauffmann: Es ist wichtig zu zeigen, dass das Weimarer Dreieck als eines von vielen Formaten innerhalb der EU funktionieren kann. Die Zusammenarbeit in kleineren Gruppen sollten keinen Verdacht erregen oder das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Wenn wir alles mit allen 27 Mitgliedstaaten zu erreichen versuchen, werden wir mit einem Musterbeispiel für Selbstlähmung enden.

 

Link: Vielleicht sollten wir Deutsche und Franzosen auch die Bedenken der Länder außerhalb der Eurozone verstehen. Andererseits muss Polen akzeptieren, dass ein Europa der vielen Geschwindigkeiten bereits besteht. Wir brauchen ein einigeres Europa, sonst werden wir angreifbarer sein und gegenüber zunehmend autoritären Mächten wie China, Russland und anderen eine offene Flanke haben, besonders in der Amtszeit eines immer weniger berechenbaren US-Präsidenten.

 

Dieser Artikel ist im Original in englischer Sprache in THE BERLIN PULSE erschienen, der außenpolitischen Publikation der Körber-Stiftung.

 

Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann

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