Stanislaw Stomma war einer der Protagonisten der deutsch-polnischen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Als prominenter katholischer Intellektueller nahm er vor 30 Jahren als Vertreter der demokratischen Opposition an den Gesprächen des Runden Tisches in Warschau teil. Im Juni 1989 wurde er als Vertreter der Solidarność in den Senat gewählt. Heute ist der 2005 verstorbene Publizist und Politiker nur in Fachkreisen bekannt, was bedauerlich ist, denn seine politische Haltung könnte auch heute Deutschen und Polen Orientierung geben.
Für seine Rolle als Initiator der polnisch-deutschen Aussöhnung brachte er günstige Voraussetzungen mit: Zum einen wurde er schon als Kind an die deutsche Sprache und Kultur herangeführt und zum anderen hatte seine alleinstehende Mutter mit vier Kindern während des Ersten Weltkriegs positive Erfahrungen mit deutschen Soldaten gemacht, die das Landgut der Stommas in Litauen gegen marodierende russische Soldaten schützten. Im Gespräch mit mir hat es Stomma einmal so formuliert: „Unbestritten habe ich in meiner Kindheit eine große Portion prodeutscher Gefühle mitbekommen. Unter Polen ist das eine große Ausnahme. Diese ´Ansteckung´ stellte sich als langwierig heraus.“
Trotz der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die sein Land noch härter als andere getroffen hatte, war Stomma zutiefst davon überzeugt, dass ein dauerhafter Frieden in Europa nur gesichert werden könne, wenn es gelänge, eine gedeihliche Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschen herzustellen. Die politische Initiative, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen, kam aus dem Kreis polnischer katholischer Intellektueller um Stanisław Stomma.
Politisches Tauwetter
Nach dem Ende des Stalinismus in Polen ermöglichte das politische Tauwetter den Einzug Stommas zusammen mit vier anderen Katholiken, die sich des Vertrauens von Primas Wyszyński erfreuten, in den von Kommunisten kontrollierten Sejm. Stomma wurde zum Vorsitzenden des kleinen ZNAK-Zirkels gewählt und bald darauf auch zum Vize-Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses bestimmt.
Diese symbolische Vertretung von Katholiken, die sich nicht von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) vereinnahmen ließen, spielte eine unverhältnismäßig große Rolle in Polens Politik. So etwa im März 1968, als sich die ZNAK-Abgeordneten schützend vor die revoltierenden Studenten stellten. Die Debatte im Sejm zur Studentenrevolte artete zu einer regelrechten Hexenjagd gegen den ZNAK-Zirkel aus. Bei Abstimmungen über wichtige Gesetzesvorhaben kam es durchaus vor, dass Mitglieder des ZNAK-Abgeordnetenzirkels sich der Stimme enthielten oder sogar dagegen stimmten. Im Laufe der Zeit hat es die PVAP allerdings geschafft, mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln, die Loyalität der ZNAK-Abgeordneten gegenüber dem Vorsitzenden Stanisław Stomma immer stärker zu untergraben. Dies führte letztendlich dazu, dass er 1976 bei der Abstimmung über die Novellierung der Verfassung, die u. a. die Festschreibung des Bündnisses mit der Sowjetunion und die führende Rolle der Partei im Staat vorsah, mit seiner antikommunistischen Haltung völlig isoliert war. Von der Führung der PVAP wurde Stomma massiv unter Druck gesetzt, der Abstimmung doch fern zu bleiben, wenn er nicht dafür stimmen wolle. Aber er hat sich dem Druck nicht gebeugt. Die Stimmenthaltung Stommas 1976 bedeutete natürlich das Ende seiner Karriere im Sejm der Volksrepublik Polen. Gleichzeitig war sie aber das Signal dafür, dass sich katholische Intellektuelle wie Stanisław Stomma, Tadeusz Mazowiecki oder Jerzy Turowicz von der politischen Zusammenarbeit mit den Kommunisten verabschiedet hatten und sich den oppositionellen Kräften zuzuwenden begannen.
Schwieriger Neubeginn
Die Arbeit im Sejm ermöglichte Stomma Reisen ins Ausland und damit die Chance, politische Kontakte in beiden deutschen Staaten zu knüpfen. 1958 reiste Stomma zum ersten Mal in die Bundesrepublik. Der Dialog zwischen Polen und Deutschen gestaltete sich damals sehr schwer. Als Stomma im April 1958 nach Westdeutschland reiste, waren die der polnischen Nation geschlagenen schweren Wunden noch allgegenwärtig. In Bonn waren zu dieser Zeit noch etliche hohe Beamte und Politiker in Amt und Würden, die – euphemistisch ausgedrückt – eine ziemlich fragwürdige Vergangenheit hatten. Schwierig war auch das Gespräch über die Nachkriegsgrenzen. In der Bundeshauptstadt wollte niemand die klare Botschaft des polnischen Gastes zur Kenntnis nehmen, dass nach dem Verlust der Ostgebiete Polens die Oder-Neiße-Gebiete für die Lebensfähigkeit seines Heimatlandes unverzichtbar sei. Dies sei nicht nur die Auffassung der kommunistischen polnischen Regierung, sondern auch der ganzen Nation.
Das Besuchsprogramm, das die Gastgeber von der Katholischen Nachrichtenagentur vorbereitet hatten, war für den polnischen Abgeordneten eine herbe Enttäuschung. Es sah nämlich lediglich die Teilnahme an einem mehrtägigen afrikanischen (sic!) Fragen gewidmeten Kongress und eine Reise nach München vor. Erst als Stomma opponierte und um politische Termine bat, gelang es mit großer Mühe, drei Begegnungen zu arrangieren, die aber wenig ergiebig und eher ernüchternd verliefen. Dann kam es aber doch noch überraschend zu einem längeren Gespräch mit dem damaligen Bundesaußenminister Heinrich von Brentano, das Stomma sehr positiv bewertete.
Bei seinen späteren Besuchen am Rhein lernte Stanisław Stomma prominente deutsche Vertriebene wie z.B. Marion Gräfin Dönhoff oder Klaus von Bismarck kennen, mit denen er im Laufe der Jahre Freundschaften schloss. Die Journalisten Dönhoff und Bismarck vermittelten dem polnischen Gast wertvolle politische Kontakte. So organisierten sie eine Begegnung mit Helmut Kohl, dem damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, mit dem Stomma im Herbst 1969 in Mainz zusammentraf. Kohl machte auf ihn einen nachhaltigen Eindruck, denn er sprach von der Notwendigkeit, die Feindschaft mit Polen vollständig zu überwinden, um ein bilaterales Verhältnis wie mit Frankreich aufbauen zu können. Stomma war auch der erste polnische Politiker, der 1969 von Bundespräsident Gustav Heinemann empfangen wurde.
Darüber hinaus hat Stomma Kontakte zu katholischen Kreisen geknüpft – wie z.B. zum Bensberger Kreis, Pax Christi oder dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Diese Verbindungen, aus denen zahlreiche persönliche Freundschaften entstanden, wurden in den 1970er und 1980er Jahren zu Zentren des Dialogs zwischen polnischen und deutschen Christen. Die Bemühungen Stommas, mit den deutschen Nachbarn ins Gespräch zu kommen, waren nicht allein auf die Bundesrepublik konzentriert. Bereits Ende der 1950er Jahre kam es zu ersten Begegnungen Stommas mit Bürgern aus der DDR, vor allem mit Vertretern der „Aktion Sühnezeichen“.
Berater des Primas
Im Jahr 1981 kamen auf Stanisław Stomma ziemlich unerwartet ganz neue, höchst verantwortungsvolle Aufgaben in Polens Politik zu. Am 13. Mai wurde Papst Johannes Paul II. in Rom bei einem Attentat schwer verletzt. Zwei Wochen später starb der langjährige Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, der immer wieder versucht hatte, sich einer drohenden Eskalation zwischen der Solidarność und den Kommunisten entgegenzustellen. Sein Nachfolger Erzbischof Józef Glemp berief in dieser für ihn persönlich und für die Kirche äußerst schwierigen Lage ein Beratergremium, den Gesellschaftlichen Rat beim Primas, der mit katholischen Intellektuellen verschiedener Fachrichtungen besetzt war. Einen Tag vor der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde Stomma zum Vorsitzenden des Gremiums gewählt. Bis 1984 behielt er diese Funktion inne. Schon sehr bald gab es innerhalb des Primasrats eine politische Sektion, aus der dann etwa ab 1985, als sich abzeichnete, dass Jaruzelski einen weichen Übergang in ein neues, noch nicht näher definiertes Polen ansteuerte, die politische Ideenschmiede „Dziekania“ entstand. Dies war ein offenes Forum, das junge Eliten mit durchaus unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Orientierungen auf zukünftige, verantwortungsvolle Aufgaben in einem neuen Polen vorbereitete. Stomma mit seiner langjährigen praktischen Erfahrung in der politischen Arbeit war bis zur Bildung der Regierung von Tadeusz Mazowiecki im Spätsommer 1989, als „Dziekania“ ihre Mission erfüllt hatte, Vorsitzender dieses Forums.
Am Runden Tisch
1989 nahm Stanisław Stomma an den Beratungen des Runden Tisches teil. Der Runde Tisch entsprach seinen politischen Vorstellungen. Dort wurde hart um Kompromisse und Verständigung gerungen. Dieses zähe Ringen hat Polen letztlich einen unblutigen Übergang in eine demokratische Gesellschaftsordnung ermöglicht. Das so erfolgreiche polnische Modell des Runden Tisches wurde dann zum Vorbild für andere Länder Mittel- und Osteuropas, die sich ebenfalls der kommunistischen Herrschaft entledigten.
Bei den ersten teilweise freien Wahlen trat er am 4. Juni 1989 als Kandidat der Solidarność für den Senat an und zog in das Oberhaus ein. Am 4. Juli 1989 hatte er die Ehre, die erste Sitzung des Senats als Alterspräsident zu eröffnen. Es war der symbolische Höhepunkt seines politischen Lebens. Die Wiedervereinigung Deutschlands, die er schon seit längerem prophezeit hatte, hat er 1990 mit Freuden begrüßt.
Bereits nach der ersten Legislaturperiode des Senats hat sich Stomma aus dem aktiven politischen Leben zurückgezogen. Für sein Lebenswerk wurde Stomma 1994 von Präsident Lech Wałęsa mit dem höchsten Orden, dem Weißen Adler, ausgezeichnet. Als erster Pole nahm Stanisław Stomma 1988 aus der Hand von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher das Große Bundesverdienstkreuz entgegen. 1994 erhielt er zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff den von den beiden Regierungen gestifteten Deutsch-Polnischen Preis. Dass Polen 1999 der Nato und 2004 der Europäischen Union beitreten konnte, hat ihn mit großer Genugtuung erfüllt. Am 21. Juli 2005 verstarb Stanisław Stomma im Alter von 97 Jahren in Warschau.
Christ und Politiker
Heute ist Stomma weitgehend vergessen, doch eine Rückbesinnung auf seinen politischen Weg wäre eine wertvolle Inspiration. Denn Stomma war ein mit der katholischen Soziallehre tief verbundener Politiker, der den Dialog zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten, zwischen Christen und Atheisten und die Aussöhnung zwischen den Religionen und Nationen förderte. Stomma war ein bescheidener, ein stiller Mann, der die Kunst des Kompromisses pflegte, ein Politiker, der Gräben überwand. Seine Freunde hatten seinen politischen Stil scherzhaft als „Stommismus“ bezeichnet. Sein Engagement führte über steinige Pfade, auf denen es immer wieder schmerzliche Rückschläge gab, letztlich zum Erfolg und zwar über eine stufenweise Demokratisierung des Staates hin zur vollkommenen Souveränität Polens. Auch sein unermüdlicher Einsatz um die polnisch-deutsche Aussöhnung wurde nicht zuletzt dank seiner Dialogbereitschaft und Beharrlichkeit von Erfolg gekrönt.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist von einigen Publizisten Stomma vorgeworfen worden, er habe sich durch seine Beteiligung am öffentlichen Leben in der Zeit der Volksrepublik Polen die Hände schmutzig gemacht. Der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski hat dies 1994 entschieden zurückgewiesen: „Solch eine Äußerung kann man nur mit einem Achselzucken quittieren, denn das sind Meinungen, die schlichtweg von Ignoranz zeugen. Hier lebte ein Volk, und um die Interessen dieses Volkes musste man sich immer bemühen, selbst dann, wenn der Rahmen für öffentliches Handeln ungemein eng und begrenzt war. Stomma war Realist, er verstand die Erfordernisse und die Beschränkungen dieser historischen Zeit. Stanisław Stomma hat – das ist meine Auffassung – hundertmal mehr für Polen und unser nationales Interesse getan als seine Kritiker, die die Haltung erhabener Isolation wählten, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Stomma hat jedenfalls gehandelt und sich dennoch nicht schmutzig gemacht.“
Das jahrzehntelange Engagement Stommas in schwierigen Zeiten und mitunter aussichtslos scheinenden Lagen ist heute eine Inspiration für all diejenigen, die sich von den neuen politischen Krisen in Europa nicht entmutigen lassen wollen.