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Solidarität ist keine Wohltätigkeit

Rezension: Solidarność. Die unvollendete Geschichte der europäischen Freiheit

Der Winter 1978/1979 brachte so viel Schnee und Kälte an die Ostseeküste wie seit Jahrzehnten nicht. Nach Temperaturen von plus zehn Grad Celsius um Weihnachten fiel das Thermometer am Neujahrstag auf minus 20 Grad und die schlimmste Schneekatastrophe der vergangenen hundert Jahre brach über Westdeutschland, die DDR und Polen herein. Weite Teile der Länder erstarrten unter meterhohen Schneeverwehungen, die Ostsee vor Sassnitz fror innerhalb weniger Stunden vollständig zu, Flensburg war weder per Straße noch per Bahn erreichbar. Dicke Eispanzer legten sich um Leitungen und Telefonmasten, die unter dem Gewicht zusammenbrachen. Strom, Heizung und Telefon fielen aus. Ganze Landstriche waren von der Außenwelt abgeschnitten und tausende Menschen in ihren Autos oder der Bahn gestrandet. In vielen Ostseehäfen waren Eisschollen zu meterhohen Barrieren aufgetürmt und jeder Schiffsverkehr unmöglich. Die Bundeswehr, die Nationale Volksarmee der DDR und die Polnische Volksarmee rückten aus und setzten Panzer ein, um die Straßen zu räumen. Der Woiwode von Gdańsk, Henryk Śliwowski, rief den Notstand aus und alle Einwohner wurden angehalten, beim Schneeräumen zu helfen. Am Weichseldurchstich kam der Eisbrecher „Basior“ nicht mehr mit dem Freihalten der Mündung nach: Nachdem die Eisschollen gebrochen wurden, fror der Fluss sofort wieder zu.

Was die Auswirkungen dieses Jahrhundertwinters mit der Gesellschaft in Polen und der Gründung der Solidarność zu tun haben, wird in einer neu veröffentlichten Geschichte der Gewerkschaft und ihres Einflusses auf das Ende des Kalten Krieges beantwortet, die jetzt im Herder Verlag erschienen ist. Das umfangreiche und fantastisch detaillierte Buch ist Ergebnis einer deutsch-polnischen Kooperation von sechs Partnern – der Polnisch-Redaktion der Deutschen Welle, der Wochenzeitung Newsweek Polska, des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG, des Internetportals DIALOG-Forum sowie des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig und der Bundeszentrale für politische Bildung. Entstanden ist eine Anthologie aus Essays und Interviews, die ursprünglich 2020 anlässlich des 40. Jahrestages der Entstehung von Solidarność auf Polnisch auf den Webseiten dw.com und newsweek.pl sowie in der polnischen Printausgabe von Newsweek publiziert wurde, ergänzt durch Beiträge aus DIALOG und exklusiv für den Band verfasste Essays von Dominika Kozłowska, Jacek Kołtan und Basil Kerski.

Katarzyna Domagała-Pereira, Bartosz Dudek, Basil Kerski (Hg.): Solidarność. Die unvollendete Geschichte der europäischen Freiheit. Umfang: 288 Seiten. ISBN: 978-3-451-39279-5

Unter vier verschiedenen Themenbereichen, „Die Streiks von 1980 und das Leben davor“, „Das geteilte Deutschland blickt auf die Solidarność“, „Mauerfall und Wiedervereinigung“ und „Das Erbe von Solidarność. Was nun?“, findet sich ein Mosaik aus Beiträgen, die detailliert die Chronologie der Ereignisse in der Danziger Werft und ganz Polen ab August 1980 bis zu Beginn der 1990er Jahre darstellen. In Interviews mit Beteiligten und Zeitzeugen wie Lech Wałęsa, Joachim Gauck, Rita Süssmuth und Timothy Garton Ash wird zusätzlich der globale Kontext und die Bedeutung der Solidarność als wichtigsten Akteur der europäischen Freiheitsbewegung und ihr Beitrag zum Ende des Kalten Krieges beleuchtet. So wird zum Beispiel im Essay „Es war schwierig, Pfeffer oder ordentliche Schuhe zu bekommen“ von Aleksander Kaczorowski die besonders schwierige Lage der Menschen in der Volksrepublik Polen in den 1970er Jahren deutlich, und Barbara Cöllen beschäftigt sich in „Ein Polizist als Schmuggler, erotische Unterwäsche und Pakete für Polen“ mit der Geschichte der „Polenhilfe“. Während manchmal die Geschichtsschreibung der 1980er und 1990er Jahre vor allem von männlichen Protagonisten dominiert erscheint, wird hier auch den entscheidenden weiblichen Protagonisten der Solidarność und darüber hinaus der gebührende Platz eingeräumt: Die Solidarność war weiblich, wie es im gleichnamigen Essay von Aleksander Kaczorowski heißt, und wichtigen Personen wie Anna Walentynowicz und Renate Marsch-Potocka sind ganze Beiträge und Interviews gewidmet.

Ergänzt werden die Beiträge durch eine Bildstrecke, eine Chronologie der Ereignisse und Kartenmaterial. Das einzige kleine Manko des wirklich fantastischen Bandes ist die Darstellung der Reaktionen auf die Solidarność in Westdeutschland: Während drei Essays der Wahrnehmung in der DDR (auf offizieller Seite wie auch in der Opposition) gewidmet sind, ist die Darstellung der Wahrnehmung in der BRD eher anekdotisch und auf einzelne Personen beschränkt. Dabei standen weite Teile gerade der westdeutschen Linken der Solidarność lange Zeit extrem kritisch gegenüber, reagierten mit Zurückweisung und zum Teil wütendem Protest. 1982 bezeichnete SPD-Politiker Egon Bahr in einem Artikel im Parteiorgan „Vorwärts“ die polnische Gewerkschaft als „Gefahr für den Weltfrieden“, und wie Philosoph Bruno Schoch in seinem Essay „Russische Märchenstunde“ in „Testfall Ukraine“ (Suhrkamp Verlag 2015) schreibt:

„Zu Beginn der achtziger Jahre tat sich die gesamte bundesdeutsche Linke schwer, die freie Gewerkschaft Solidarność zu unterstützen. Als das kleine „Sozialistische Büro“ im April 1981 eine Veranstaltung „Solidarität mit Solidarność“ organisierte, blieb anders als erwartet die Stadthalle in Offenbach gähnend leer. Das Selbstverständnis vieler noch so undogmatisch oder libertärer Linker war mit der internationalen Teilung stärker verwoben, als ihnen lieb war: Solidarność lehrte zwar das Regime das Fürchten, doch ihr Nationalismus und Katholizismus ließen uns fremdeln, auch, weil Lech Wałęsa vom Papst und Ronald Reagan empfangen wurde.“

Eine Vertiefung dieses Themas (das in den Gesprächen mit Lech Wałęsa und Joachim Gauck angedeutet wird) wäre das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem I gewesen, schmälert aber die Lektüre in keinster Weise. Entstanden ist hier ein Standardwerk über die Geschichte und Bedeutung der Solidarność nicht nur für Polen und Europa, sondern global – ein Standardwerk, welches sich nicht nur durch seinen Facettenreichtum und Details auszeichnet, sondern auch den fast prophetischen Untertitel. Die noch nicht abgeschlossene Geschichte der Solidarność im europäischen Kontext steht in direktem Zusammenhang mit dem Euromaidan in der Ukraine, der russischen Reaktion darauf und dem russischen Angriffskrieg, wie Herausgeber Katharina Raabe und Manfred Sapper in „Testfall Ukraine“ (Suhrkamp Verlag 2015) schreiben: „Dass ausgerechnet die ukrainische Gesellschaft im Namen europäischer Ideale die machtvollste Freiheitsbewegung seit der polnischen Solidarność auf die Beine stellte, überraschte die Europäer und stürzte etliche in Verlegenheit.“

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Solidarność und deren Verankerung in der polnischen Zivilgesellschaft sollte es uns möglich machen, die Wichtigkeit von Solidarität, Zusammenhalt und demokratischem Diskurs für die Freiheit in ganz Europa zu verstehen und zu verteidigen. Und dazu zählt auch die kontinuierliche Solidarität mit der Ukraine, wie Dominika Kozłowska sehr deutlich im abschließenden Essay des Bandes zeigt, wenn sie über die Unterstützung der polnischen Gesellschaft für den Nachbarn im Osten schreibt:

„Falls sich zeigt, dass dieses Engagement mehr ist als nur eine vorübergehende Geste der Wohltätigkeit, die unseren Nationalstolz und unsere Selbstgefälligkeit bedient und uns die Brust schwellen lässt, kann es zur Geburtsstunde einer neuen Solidarität werden. Es könnte uns helfen, die tiefgreifenden Spaltungen zu überwinden, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt so stark bedrohen. Es könnte einen Beitrag dazu leisten, die schwierigen Kapitel der Geschichte und der polnisch-ukrainischen Nachbarschaft aufzuarbeiten. Solidarität ist keine Wohltätigkeit.“

In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland sind der 11. November 1989 und die damit einhergehenden Bilder der offenen Grenzübergänge in Berlin der ultimative Ausdruck des Endes des Kalten Krieges. Die auf den ersten Blick vielleicht langweiliger wirkende Aufnahme von Verhandlungen an einem runden Tisch in Warschau im Februar 1989 stellt aber vielleicht ein besseres Symbol für den Kampf um europäische Freiheit dar, wie nach der Lektüre dieses wichtigen Buches klar wird. Und im Buch selber findet sich auch noch eine weitere Aufnahme, die vielleicht am besten geeignet ist, den komplexen Weg zur Freiheit in Polen und Deutschland mit all seinen Dynamiken darzustellen: ein Foto von Ewa Ossowska, Magdalena Modzelewska, Lech Wałęsa und Bożena Rybicka beim Beten während einer Messe in der Danziger Werft 1980, nach einem langen Winter.

Katarzyna Domagała-Pereira, Bartosz Dudek, Basil Kerski (Hg.): Solidarność. Die unvollendete Geschichte der europäischen Freiheit. Umfang: 288 Seiten. ISBN: 978-3-451-39279-5

 

 

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Marcel Krueger

Marcel Krueger

Marcel Krueger ist Schriftsteller und Übersetzer. 2019 hat er als offizieller Stadtschreiber von Allenstein/Olsztyn im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa über das Leben in Ermland-Masuren berichtet. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Von Ostpreußen in den Gulag“ (2019).

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