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Kriegsherr sucht Strategie

„Wir sind im Krieg.“ Diesen Satz wiederholte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner zweiten TV-Ansprache an seine Landsleute zur Coronakrise am 16. März 2020 gleich sechs Mal. Seinem Aufruf zu nationalem Zusammenhalt und gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen die Pandemie leisten Bürger und Parteien weitestgehend Folge, doch mehren sich unterdessen auch die Forderungen an die Regierenden in Paris.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner Fernsehansprache

Gefordert wurden anfangs vor allem mehr Kohärenz und Transparenz. Wegen der Beibehaltung des Wahltermins für die erste Runde der Kommunalwahl am 15. März, am ersten Tag nach der Schließung von Cafés und Restaurants und dem Appell zum Zuhausebleiben von Premier Édouard Philippe, hagelt aus diversen politischen Richtungen Kritik auf Staatspräsident Macron ein, obwohl der Druck, die Wahl wie geplant durchzuführen, vor allem aus der Opposition kam.

Mit besonders großer Vehemenz richtet sich der Vorwurf der Inkohärenz auch beim Thema Atemschutzmasken und Tests gegen die Regierung. Sie stelle den Personen an der vordersten Front im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie kein ausreichendes Schutzmaterial zur Verfügung und habe daher den Nutzen von Mundschutz und Coronavirus-Tests heruntergespielt. In den sozialen Netzwerken kursieren sogar Zahlen, die einen viel weiter zurückreichenden Widerspruch belegen: Entgegen seinen eigenen Ankündigungen wurden unter Macrons Präsidentschaft Einsparungen an Krankenhäusern vorgenommen und die Bettenanzahl reduziert. Zudem werden Klagen gegen diverse Minister wegen fahrlässiger Gefährdung oder Staatslüge eingereicht. So bezichtigt das Ärztekollektiv C19 die Mitte Februar zurückgetretene Gesundheitsministerin Agnès Buzyn und Premierminister Édouard Philippe der Staatslüge, da sie trotz Gefahrenkenntnis nicht die nötigen Maßnahmen ergriffen hätten, um das Vordringen der Epidemie nach Frankreich zu bremsen.

Zur Kontrolle der Regierung, die sich bei ihren Entscheidungen auf die Empfehlungen eines wissenschaftlichen Rates stützt, finden in der ausgedünnten Assemblée Nationale, der französischen Nationalversammlung, seit Anfang April wöchentlich Anhörungen von Ministern statt. Zudem besserte die Mannschaft von Premier Philippe bei der Durchführung von Coronavirus-Tests und der Kommunikation der Zahlen von Infizierten und Opfern nach. Präsident Macron absolvierte Besuche an der Pandemie-Front: im eiligst aufgebauten Militärkrankenhaus in Mulhouse sowie in einem Krankenhaus bei Paris, wo er dem medizinischen Personal mehr Schutz und Unterstützung zusicherte. Und auch in Marseille beim Virologen Didier Raoult, der sich für einen Einsatz des Malaria-Medikaments Chloroquin zur Behandlung von Covid-19-Infizierten stark macht.

Damit reagierte der Staatspräsident auf die Forderungen nach mehr Hilfe sowie nach Freigabe von Arzneimitteln. Dass gleichzeitig aber auch scharf vor der Anwendung von Chloroquin aufgrund von dessen verheerenden Nebenwirkungen und als methodisch unzureichend kritisierten Studien zu dessen Wirksamkeit gewarnt wird, illustriert, wie groß die Herausforderung für die Regierenden ist, eine klare Strategie zur Bewältigung der Krise zu entwickeln, auf die immer massiver gedrängt wird.

Da die Coronakrise nicht nur die Gesundheit der Gesellschaft, sondern auch die Wirtschaft, das demokratische und gesellschaftliche Leben beeinträchtigt, verlangen immer mehr Stimmen nach einer klaren Strategie des Staates. Gefordert wird ein umfassendes Konzept zur Eindämmung der Pandemie, das die Nebenwirkungen der Ausgangssperre möglichst effizient behebt und aus dieser so behutsam herausführt, dass eine befürchtete zweite, heftigere Infektionswelle verhindert wird, vor der Ärzte so nachdrücklich warnen. Die Strategie zur Überwindung des Lockdowns müsse zunächst Vorrang haben vor der Abrechnung mit der Regierung und den vielfach geforderten Rundumkorrekturen von Staatsabbau und Globalisierung, tönt es aus verschiedenen Richtungen.

So pocht der Arbeitgeberverband Medef auf eine möglichst rasche Wiederaufnahme der unterbrochenen Arbeit und die Möglichkeit, den Mitarbeitereinsatz auszuweiten, um der Rezession entgegenwirken zu können. Die französische Wirtschaft schrumpft infolge der ergriffenen Maßnahmen alle zwei Wochen um 1,5 Prozent und der Aufschwung dürfte langsamer und schwieriger werden als zunächst erhofft, mahnt Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, der sich auf EU-Ebene für zusätzliche finanzielle Hilfsprogramme zur Überwindung der Coronakrise stark macht.

Die Einbußen sind neben der Schließung von Restaurants, Geschäften und kulturellen Einrichtungen unter anderem auf den Ausfall von Eltern zurückzuführen, die ihre Kinder betreuen müssen. Besonders stark betroffen ist Frankreich auch als weltweit wichtigste Tourismusdestination, die bereits seit Einbruch der Besucherzahlen aus China beträchtlich leidet. Große Sorge macht sich ebenfalls im wirtschaftlich wichtigen Agrarsektor breit: Infolge der mittlerweile verhängten Schließung der EU-Außengrenzen fehlen Saisonkräfte aus dem nichteuropäischen Ausland. Damit auf Frankreichs Feldern trotzdem geerntet werden kann, rief Landwirtschaftsminister Didier Guillaume die Beschäftigten aus Einzelhandel, Gastronomie und Tourismus dazu auf, sich nützlich zu machen, um die Bevölkerung zu ernähren. Er hat dafür eine Plattform zur lokalen Einsatzvermittlung eingerichtet. Natürlich sind bei der Agrararbeit die vorgeschriebenen Hygieneregeln einzuhalten, die Arbeitgeber haben Schutzmaterial zur Verfügung zu stellen.

Dies ist ein zentraler Punkt, denn der Mangel an Schutzvorkehrungen hat bereits auch zu Beeinträchtigungen der Wirtschaftsaktivität geführt, insbesondere in Logistik, Einzelhandel und Verkehrsunternehmen. LKW- und Busfahrer, Postbooten und Kassierer machten von ihrem Rückzugsrecht wegen unzureichendem Schutz vor Infektionen am Arbeitsplatz Gebrauch. Die Ausstattung mit Masken, Handschuhen und Desinfektionsgel steht für die Gewerkschaften in der Krise noch über dem Aufbegehren gegen die staatlich beschlossene Lockerung der Arbeitszeitregelungen.

Um dringend benötigte Produkte wie Schutzausrüstungen, Inhaltsstoffe für hydroalkoholisches Gel, aber auch Beatmungsgeräte herzustellen, haben zahlreiche französische Unternehmen aus dem Mode-, Automobil- und Getränkesektor ihre Produktion umgestellt. Im Zuge der Globalisierung hatte auch Frankreich Produktionsstätten dichtgemacht und auf Import gesetzt. Entsprechend laut sind nun die Forderungen, etwa die des sozialdemokratisch orientierten Thinktanks Terra Nova, nach einer neuen Autarkie im Gesundheitsbereich.

In der Bevölkerung, die sich nach anfänglich zögerlichem Einhalten der Hygieneregeln zunehmend besorgt zeigt, dominiert laut Umfragen die Zustimmung zu Ausgangssperre und Schließungen deutlich, auch nach der zweiten Verlängerung des Lockdowns bis zum 11. Mai.  Viele halten die Maßnahmen gar für unzureichend und blicken beispielsweise der für Mitte Mai angekündigten schrittweisen Öffnung von Kinderkrippen und Schulen besorgt entgegen. In der Zwischenzeit treiben ihre rebellischer veranlagten Mitbürger die Anzahl der verhängten Bußgelder allein in Paris an einem Tag in den fünfstelligen Bereich. Auch die Finanzhilfen für die Wirtschaft erfreuen sich breiter Akzeptanz. Entsprechend stieg die Zufriedenheit mit dem Regierungshandeln Mitte März deutlich, brach jedoch binnen weniger Tage drastisch ein, da der Eindruck entstand, die Regierung habe Informationen verheimlicht, zu langsam reagiert und bei der Versorgung mit Mundschutz und Tests versagt. Dem von der Regierung vorbereiteten Einsatz der bereits innerhalb Macrons Partei LREM umstrittene Tracking-App StopCovid zur freiwilligen Nutzung steht die Hälfte der Franzosen ablehnend gegenüber. Ganz ähnlich sieht es bei der Haltung bezüglich der nationalen Einheit aus: Die eine Hälfte der Bürger spricht sich für nationalen Zusammenhalt aus, die andere findet, man sollte nicht zögern, Kritik zu äußern.

Wie stimulierend diese sein kann, war in der vierten TV-Ansprache von Präsident Macron am 13. April zu beobachten. Neben der Ankündigung eines durchdachten Plans zur Bewältigung der Krise hat Frankreichs Staatsoberhaupt Versäumnisse eingestanden sowie Linderung für finanzielles und seelisches Leid angekündigt: Einkommensschwache Familien und Studierende erhalten eine Geldspritze, Angehörige dürfen sich von Sterbenden verabschieden. Damit kommt er Forderungen der Opposition nach – und macht deutlich, wie ernst er es selbst mit der nationalen Einheit nimmt. Gleichzeitig vollzieht er einen Linksschwenk, wie er sich auch bei den Konservativen andeutet, die beginnen, den Liberalismus in Frage zu stellen und der Lösung sozialer Probleme größere Bedeutung beizumessen. Wie die Tageszeitung Le Monde beobachtet: „In den westlichen Ländern zieht uns der Kampf gegen Covid-19 nach links.“ Die Politik muss bürgernäher werden, doch ob Frankreichs Präsident es wirklich schaffen wird, sich von der Elite zu lösen und sich wie angekündigt neu zu erfinden, bleibt angesichts der bereits angehäuften Enttäuschungen für viele fraglich.

Nina Henkelmann

Nina Henkelmann

Nina Henkelmann ist euro|topics-Korrespondentin für Frankreich sowie die französischsprachigen Teile Luxemburgs, Belgiens und der Schweiz. Sie hat Romanistik, Kultur- und Kommunikationswissenschaften in Deutschland und Frankreich studiert.

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