Zum Inhalt springen

Szczecin, Polens pulsierende Peripherie

Vor nicht so geraumer Zeit, zu Beginn der 2000er Jahre, gehörte es selbst unter Teilen der Szczeciner gebildeten Mittelschicht noch zum guten Ton, die eigene Stadt als rückständig, provinziell und peripher darzustellen. Dabei spielte die immerhin rund 400.000 Einwohner starke Bevölkerung in dieser pauschalisierenden Einschätzung der Hauptstadt Westpommerns keine Rolle. Es galt und gilt mitunter noch heute vielmehr die – zumeist bloß übernommene und nicht verifizierte – Überzeugung, die Stadt hätte wirtschaftlich und kulturell wenig zu bieten; ein „Dorf mit Trambahnen“ wie es im Lande höchstens noch in Bydgoszcz (ehem. Bromberg) anzutreffen sei, ein Ort ohne größere Ambitionen und Projekte, der vermeintlich an der Oder gemächlich vor sich hin kriselte, während andere polnische Metropolen den Sprung aus dem Staatssozialismus heraus in die moderne Marktwirtschaft schon lange geschafft hätten.

Zwischen Minderwertigkeitskomplex und Selbstmitleid zeugt dieses hier nur kurz angedeutete, in Wirklichkeit aber auf jeden möglichen Bereich zugeschnittene, negative Narrativ – von Schlaglöchern auf den Straßen des Stadtzentrums, die es in Posen oder Warschau vermeintlich nicht gäbe, bis hin zu Feuerwerken, die ja in Berlin viel spektakulärer seien usw. – von tiefsitzenden kollektiven Verlustängsten. Einst noch von Warschau teils vergessen, teils vernachlässigt, von Bonn beansprucht oder zumindest völkerrechtlich nicht gänzlich aufgegeben und von Ost-Berlin insgeheim begehrt, war Szczecin nach dem Zweiten Weltkrieg als nunmehr polnische Grenzstadt über Jahrzehnte hinweg nicht nur mit seinem Wiederaufbau, sondern wohl ebenso stark mit seiner Identitätsfindung beschäftigt. Die zu vernehmenden pessimistischen Stimmen mögen deren bis heute noch hörbares, gesellschaftspsychologisches Nachbeben darstellen.

Mieczysław-Karłowicz-Philharmonie in Stettin, Quelle: Wikipedia

Diesem eher trüben Selbstzeugnis Szczecins – für manchen Nicht-Szczeciner, ob nun Besucher oder Zuzügler (angefangen bei dem Verfasser des vorliegenden Beitrags), ohnehin befremdlich – entspricht jedoch zum Glück auch ein positives. Und es mangelt nicht an lokalen Enthusiasten, die in den Hauptmerkmalen der Stadt keine Nachteile, sondern Stärken bzw. ein Entwicklungspotenzial wahrnehmen. Dies betrifft sowohl Szczecins komplexe Langzeitgeschichte samt Bevölkerungstransfer in der Nachkriegszeit als auch die Grenzlage. Was zwar von vielen polnischen Bürgern gerade nach dem Krieg verständlicherweise als persönliche Tragödie empfunden wurde, nämlich der Verlust der Heimat im ehemaligen Ostpolen und die Ansiedlung in einem kulturell fremden, wiederum von seiner Bevölkerung zwangsmäßig verlassenen einstigen Ostdeutschland an der Oder, barg in der Tat auch die Opportunität eines Neuanfangs.

Szczecin war also nicht unbedingt im negativen Sinne des Wortes eine Art „wilder Westen“, sondern auch insofern, als die Stadt einer offenen Zukunft entgegenblicken konnte. Das löste zwar Ungewissheit aus, machte aber aus Szczecin einen Ort vieler Möglichkeiten, deren Realisierung in Zeiten des Kalten Kriegs allerdings weitgehend eingefroren bleiben musste. Selbstverständlich bedurfte es nicht erst des Systemwechsels von 1989, damit sich ein neues wirtschaftliches, gesellschaftliches und kulturelles Leben entfalten konnte, zumal Szczecin als Hafenstadt einen nicht unbedeutenden Zugang zur Außenwelt genoss. Rückenwind bekamen Initiativen aus der Zivilgesellschaft jedoch vor allem, nachdem Polen den Weg der Demokratisierung eingeschlagen hatte.

Selbst wenn es Szczecin in den neunziger Jahren des vergangenen und noch zu Beginn des Jahrhunderts nicht so schnell wie etwa Wrocław gelungen war, Investoren aus dem Ausland anzuziehen, so reicht ein Blick auf die heutige Lage, um feststellen zu können, wie realitätsfremd das Bild einer vegetierenden Provinzstadt nunmehr geworden ist. Seit 15 Jahren gehört Polen nunmehr zur EU und ist Teil der Schengen-Zone, was gerade für Szczecin als Grenzstadt von wirtschaftlich herausragender Bedeutung wurde. Dreißig Jahre nach dem Ende des staatssozialistischen Systems im Lande der Solidarność kann Szczecin – trotz mitunter widriger Verhältnisse in einer seiner Kernbranchen, dem Schiffsbau, mit der Teilaufgabe der Werftaktivitäten – sehr wohl eindeutige Erfolge aufweisen.

So befindet sich die Oder-Metropole laut dem neuesten Bericht Thriving Metropolitan Cities von Skanska, Dentons & Colliers International (2019) unter rund zweihundert europäischen Städten mit mehr als 250.000 Einwohnern in der Top-Gruppe der europaweit zwanzig dynamischsten – auf Platz 15. Beachtet wurden in der Studie vor allem Kriterien wie Produktivität, Vernetzung und Humankapital. Dieses sehr gute Ergebnis deckt sich übrigens mit der Außenwahrnehmung Szczecins in der Grenzregion, nicht zuletzt auf deutscher Seite, in Vorpommern, wo der Stadt in den letzten Jahren vermehrt zugetraut wurde, das wirtschaftliche Zugpferd einer noch entstehenden grenzübergreifenden Metropolregion zu werden. Dass es allerdings gerade in Hinblick auf die Vernetzung Luft nach oben gibt, zeigt sich beispielsweise an den nach wie vor dürftigen Zugverbindungen zwischen Szczecin und Berlin (und auch Warschau).

2004 hat der US-Ökonomen Richard Florida seine These von der Korrelation zwischen kultureller Kreativität und lokalem Wirtschaftswachstum in den Städten veröffentlicht. Obschon seine These nicht unumstritten ist, liefert sie eine interessante Sichtweise, die sich auf die wirtschaftliche Entwicklung Szczecins anwenden lässt. Denn die Korrelation zwischen Szczecins wachsender wirtschaftlicher Kraft geht Hand in Hand mit dem wachsenden Kulturangebot. Zu nennen wäre hier die quirlige, sowohl klassische als auch zeitgenössische Theaterszene mit dem bereits traditionsreichen, alljährlichen Festival Kontrapunkt (erstmals 1966 als Szczeciner Theaterwoche veranstaltet), oder die Mieczysław-Karłowicz-Philharmonie, die in ihren neuen, architektonisch kühnen, gleich im Eröffnungsjahr 2016 mit dem angesehenen Mies-van-der-Rohe-Preis ausgezeichneten Räumlichkeiten im Herzen der Stadt ein facettenreiches, sowohl auf Tradition aufbauendes als auch innovatives Programm anbietet, das grenzüberschreitend eine zunehmende Zahl an deutschen Musikliebhabern heranzieht. Mit dem jüngsten Umzug der Philharmonie, einer der ersten nach dem Krieg im polnischen Szczecin gegründeten Kulturinstitutionen, die dank ihrer neuen Aufmachung in nur wenigen Jahren zum neuen Wahrzeichen der Stadt geworden ist, hat die Musik auch ihren Weg in die damalige städtische Geografie zurückgefunden – zu dem Ort, wo vor dem Zweiten Weltkrieg das Stettiner Konzerthaus stand.

Der Erfolg der Philharmonie liegt sicherlich daran, dass der Grundsatz, an dem sich die Programmgestaltung leitet, dem Versuch entspricht, die goldene Mitte zu finden: Jenseits jeglichen sterilen Frusts darüber, dass man eben nicht Berlin und auch nicht Warschau sei, dafür aber im Bewusstsein des eigenen Potenzials, wird hier Kultur geschaffen und dargeboten, die auf hohem Niveau liegt. Gleiches gilt für die Szczeciner Oper, zu deren Erfolgen u.a. die 2018 – übrigens auch in den Kreisen der Pariser Kritik – sehr positiv rezipierte Uraufführung der französischen Oper „Guru“ des Komponisten und Dirigenten Laurent Petitgirard gehört. Die junge Szczeciner Kunstakademie wiederum, die 2019 ihr zehntes Jubiläum feierte, leistet einen beachtlichen, inzwischen auch landesweit anerkannten Beitrag zur Bildung einer neuen Generation vielseitig begabter KünstlerInnen, von denen nicht wenige sich nach Studienabschluss gleich vor Ort für ihre Stadt engagieren.

Nun wird man in ein paar wenigen Sätzen natürlich kein ausführliches, ja gar ausgeglichenes Porträt des kulturellen Szczecins liefern können. (Dem literarischen Szczecin, in dem u.a. Namen wie Dariusz Bitner, Brygida Helbig, Inga Iwasiów, Artur Daniel Liskowacki oder Krzysztof Niewrzęda herausragen, müsste ein gesonderter Entdeckungsspaziergang gewidmet werden.) Wenn hier nur ein paar Flaggschiffe des kulturellen Lebens der Stadt genannt werden, soll es nicht bedeuten, dass sich dieses damit abschöpfen lässt. Street-Art und Rap-Szene hätten hier genauso ihren Platz verdient. Was in vielen Bereichen hervorsticht, ist die Lust am Experimentieren. Nicht selten auch das Verlangen, innovative Ideen mit dem historischen Erbe der Stadt zu verbinden, um sich dessen auf kreative Art anzueignen.

Die Kulturlandschaft, die ausdrücklich von den lokalen Behörden, ob Stadt oder Wojewodschaft, durch Wettbewerbe und Drittmittelzuwendungen gefördert wird, gehört eindeutig zu Szczecins Stärken, auch wenn dies für die Einwohner nicht immer genügend sichtbar ist, wie aus einer gerade erschienen stadtsoziologischen Studie zur Energie der Szczeciner Kultur zu entnehmen ist.

Zwischen rein kontemplativer Beschäftigung mit der fremden Vergangenheit und unternehmungslustiger Öffnung auf zukunftsweisende Projekte scheint letztere immer mehr Befürworter zu finden. Im frischen Wind der Stettiner Haffs weht immer noch ein Hauch Pioniergeist mit. „Nowa Ameryka“ – Neuamerika – heißt eine amüsante und doch anspruchsvolle kulturelle Initiative, die vor zehn Jahren vom Szczeciner Fotografen Andrzej Łazowski in Zusammenarbeit mit dem deutschen Künstler Michael Kurzwelly lanciert wurde. Nowa Ameryka, „das Land der Pioniere und Freiheitshungrigen, die einen neuen Raum bürgergesellschaftlich gemeinsam gestalten wollen und erkannt haben, dass dies [ihr] Gelobtes Land ist“. Hinter dem humorvollen Unterton lässt sich darin eine durchaus neue Form des lokalen Patriotismus vernehmen, in dem das einst negative Bild von „Polens wildem Westen“ sublimiert wurde.

Jenseits des Sogs der polnischen und trotz der geradezu selbstverständlichen Anziehungskraft der deutschen Hauptstadt wird Peripherie als Merkmal in Szczecin immer weniger als Last empfunden, sondern viel eher als Chance für regionale, auch grenzüberschreitende Selbstentfaltung.

Schlagwörter:
Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.