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Die Dekolonisierung muss kommen

„Als Künstlerinnen und Künstler sollten wir der Welt erzählen, wer wir sind, denn bisher waren wir unsichtbar.“

 

Anna Łazar: Du hast dich immer als Konzeptkünstlerin bezeichnet. Dabei geht es um ein bestimmtes Verhältnis zur Realität. Selbst wenn du dich mit der Gasreform oder dem Steuersystem befasst, tust du das aus Sicht einer Künstlerin.

Alewtyna Kachidse: Das ist, wie aus der Vogelperspektive zu schauen. Ich versuche, kritisch zu sein. Ich stelle mich nicht auf die Seite der Oligarchen oder des Verbands der Bildenden Künstler. Es ist wichtig zu verstehen, nach welchem Schema Herrschaft funktioniert. Ich kann Schwachpunkte erkennen und mich als Konzeptkünstlerin dazu ironisch äußern.

Vor einigen Jahren schrieb ich einen Essay über die Funktionsweise unseres Energiesystems. In diesem Text lernt das jüngste Kind gerade erst zählen und führt eine einfache Rechnung aus. Es teilt die Anzahl der Einwohner und Einwohnerinnen der Ukraine durch die Summe der Rechtsbrüche durch die Oligarchen. Das Ergebnis: Jeder Mensch in der Ukraine gibt monatlich etwa 500 Hrywnja (knapp 17 Euro) an die Oligarchen ab. Mir kommt es vor, als gebe es unter den Künstlern in der Ukraine nicht viele Diskussionen zu aktuellen Fragen, viel lebhafter geht es bei Fragen der Geschichte zu.

Der Majdan während der Revolution der Würde 2013/14 war für dich eine wichtige Erfahrung. Was hast du damals gelernt?

Ich begriff, dass unsere Kraft auf direkter Aktion beruht. Wenn du inmitten einer Krise steckst und etwas unternimmst, bist du weniger nervös. Der Euromajdan war eine tolle Lehrzeit für uns, so dass wir jetzt nach dem damals entwickelten Muster handeln. Auf dem Majdan habe ich meine Performance ausgedacht von der Frau, die mit der Elektrizität kämpft.

Worum geht es dabei?

2014 nahm ich an einer wichtigen internationalen Ausstellung in St. Petersburg teil. Ich wollte von der Ukraine und dem Majdan erzählen. Ich wusste, die meisten Russen dachten, der Majdan sei kein komplexer Organismus gewesen, sondern ein zusammengewürfelter Haufen von Obdachlosen und Asozialen. Ich überlegte mir, wie sich dieses Image ändern ließe. Ich ließ mir also etwas in der Art eines politischen Schaustücks oder eines performativen Dialogs einfallen.

Ich schrieb zwanzig für Russen und Ukrainer schwierige Fragen zur aktuellen Politik auf. Wem gehört die Krim? Wieso wird nicht überall in der Ukraine ukrainisch gesprochen? Habt ihr keine Angst vor den Nationalisten aus dem Rechten Sektor? Und ich kam auf die Idee, auf diese Fragen aus mehreren Sichtweisen zu antworten. Die erste war die eines Touristen: Er befindet sich auf Distanz, beobachtet und mischt sich nicht ein. Die zweite die eines Vermittlers, einer Person, die meint, keine Antwort dürfe den Konflikt schüren, sondern müsse sich an die Normen politischer Korrektheit halten. Die dritte Sichtweise war die derjenigen, „die mit der Elektrizität kämpft“. Ich erinnerte mich an Kasimir Malewitsch’ Bühnenbild zu Michail Matjuschins futuristischer Oper „Sieg über die Sonne“ von 1913, eine Erzählung von den alten Zeiten und wie die Sonne besiegt wurde, indem die Elektrizität und die künstliche Beleuchtung aufkamen. Ich dachte mir, gut, Freunde, ihr habt die Sonne besiegt, aber jetzt ist die Elektrizität zu besiegen. Schließlich treibt diese das Fernsehen und die sozialen Medien an. Die Figur der mit der Elektrizität Kämpfenden spricht also einfach davon, was sie sieht.

Sechshundert Leute schauten mir im Zentrum von Petersburg zu. Es kam die Frage: Wem gehört die Krim. Aus der Sicht des Touristen war meine Antwort: Die Krim gehört dir, mir und den Sternen. Die mit der Elektrizität Kämpfende antwortete: Die Krim gehört mir. Die Vermittlerin erklärte den politischen Unfug. Diese Bühnenperformance führte ich auch im Mystezkyj-Arsenal in Kiew und vor den Präsidentschaftswahlen auf, die Wolodymyr Selenskyj gewann. Das war eine Art Hirngymnastik.

Vor welche Herausforderungen sehen sich heute ukrainische Künstlerinnen und Künstler gestellt?

Wir haben die einzigartige Chance, unsere Geschichte zu entkommunisieren. Wir sollten der Welt erzählen, wer wir sind, denn bisher waren wir unsichtbar.

Eine weitere Herausforderung ist die Dekolonisierung. Die Historiker sind sich uneins, welche Art von Kolonie die Ukraine war. Als ich vor zwanzig Jahren durch Moskau ging, befürchtete ich insgeheim, jemand könnte auf die Idee kommen, ich hätte nicht den richtigen Akzent. Wenn ich mich heute daran erinnere, sehe ich Symptome eines kolonialen, untergeordneten Denkens: Bin ich gut genug und falle nicht auf? Doch ich mache mir deswegen schon lange keine Sorgen mehr.

Wie soll deiner Meinung nach die Dekolonisierung praktisch vor sich gehen?

Vor einiger Zeit begann ich, die Nachlässe von Wolodymyr Melnytschenko und Ada Rybatschuk zu sichten, zweier ukrainischer Künstler aus sowjetischer Zeit. Ich las ihre Tagebücher, in denen sie ihre Reisen zu den Nenzen beschreiben, die in Nordwestsibirien leben. Mir fiel besonders eine geschilderte Situation auf, eine Begegnung mit einem Komsomolzen, der sagte: „Malt den Nenzenkindern einen Weihnachtsbaum zum Neuen Jahr.“ Ada Rybatschuk antwortete, einen Weihnachtsbaum zu malen, passe nicht, weil es in der Gegend nie Weihnachtsbäume gegeben habe. Die ukrainischen Künstler der 1970er Jahre verstanden gut, dass die Nenzen kolonisiert waren und ihre Kultur abgewertet wurde. Sie dokumentierten, wie die Tschumen verschwanden, die für die Nenzen typischen Wohnjurten. Ada beschreibt, wie es sie schmerzte, dass an ihre Stelle Schachteln auf Kufen auftauchten und dann irgendwelche Bauten. Acht Jahre lang hielten sie fest, was mit diesen Menschen geschah. Sie verhielten sich wie Ethnologen, zeichneten und beschrieben ihre Gebräuche.

Kurzum, wir müssen heute Platz für verschiedene Kulturen schaffen. Und eigene Narrative erzeugen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Alewtyna Kachidse, zeitgenössische ukrainische Künstlerin, Zeichnerin und Performerin. Sie lebt und arbeitet in Musytschi, 26 km von Kiew. Von 2009 bis zur russischen Invasion leitete sie eine Privatresidenz für Künstler unter dem Namen „Projekt der Erweiterten Geschichte von Musytschi“, die dreißig Künstler aus der ganzen Welt besuchten. Eine der Hauptfiguren aus dem Buch von Kateryna Jakowlenko (Hg.): „Dlaczego w sztuce ukraińskiej są wielkie artystki“ (Wieso es in der ukrainischen Kunst große Künstlerinnen gibt, aus dem Ukrainischen von Anna Łazar u.a., 2020).

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