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Merz in Warschau und Kaczyńskis Erwartungen

Friedrich Merz ist nicht Bundeskanzler. Und es steht in den Sternen, ob er seinen Traum vom Regierungschef jemals wird verwirklichen können. Die polnische Regierung interessiert das allerdings wenig. Der CDU-Vorsitzende und damit Chef der größten Oppositionspartei im Bundestag wurde Ende Juli in Warschau mit dem einem Regierungschef zustehenden Zeremoniell empfangen.

Merz wurde mit Polizeieskorte und Martinshorn durch die wegen der Ferien menschenleeren Straßen der polnischen Hauptstadt chauffiert. Der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jarosław Kaczyński, verwandte über eine Stunde auf ein Gespräch mit dem Unionspolitiker. Es sind nur wenige Politiker aus dem Westen, denen die Ehre einer Audienz bei dem mächtigsten Mann der polnischen Politik zuteil wurde. Wie gewöhnlich gut informierte Quellen wissen lassen, wandte sich Kaczyński mit „Herr Bundeskanzler in spe“ an den deutschen Gast. Auch Ministerpräsident Mateusz Mazowiecki fand Zeit für eine Begegnung mit dem deutschen Oppositionsführer.

Die nationalkonservative Regierung setzt darauf, was Merz in naher Zukunft einmal sein könnte. Es war kein Zufall, dass Marie Le Pen, Chefin der französischen Rechtsaußenpartei Rassemblement National, im Dezember letzten Jahres mit ähnlichen Ehren in Polen empfangen wurde. Damals setzte PiS darauf, dass sich Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen gegen Amtsinhaber Emmanuel Macron durchsetzen würde.

Der „Bundeskanzler in spe“ in Warschau

Merz hat wesentlich größere Chancen als Le Pen, die Erwartungen der PiS-Partei zu erfüllen. Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl vom September letzten Jahres befand sich die CDU/CSU eine Zeit lang in schweren Gewässern, aber seit einigen Monaten führt sie bei Umfragen erneut mit Abstand und liegt zehn Prozent vor Olaf Scholz’ SPD (Umfrage vom 4. August: CDU/CSU 28 Prozent, SPD 17 Prozent).

Natürlich vollzieht sich ein Regierungswechsel in Deutschland nicht einfach mal so eben wie in Italien. Hoffnungen auf vorgezogene Neuwahlen sind also ziemlich illusorisch, aber eine Investition in persönliche Beziehungen zu Merz könnte in drei Jahren Früchte tragen, wenn die Deutschen erneut zu den Wahlurnen schreiten. Außerdem macht Merz keinen Hehl aus seinen Ambitionen auf das Kanzleramt. Der Sechsundsechzigjährige verkündete unlängst, er fühle sich keineswegs zu alt, um sich 2025 in seiner Partei um die Nominierung zum Kanzlerkandidaten zu bewerben.

Die besondere Wertschätzung für Merz wird umso deutlicher, wenn wir die Gestaltung seines Besuchs mit dem Reiseprogramm des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil einen Monat vorher vergleichen. Dieser musste sich mit Gesprächen mit seinen polnischen Äquivalenten begnügen, Vertretern der Neuen Linken, und seine Visite verlief in Polen ohne Widerhall und ohne Interesse seitens des Regierungslagers oder der regierungsnahen Medien.

Der misslungene Flirtversuch mit Scholz

Was findet PiS so toll an Merz? Nach der Wahlniederlage der CDU/CSU schien es, als suche Warschau eine neue Öffnung hin zur Koalition aus SPD, Grünen und FDP, innerhalb derer insbesondere die Grünen offen für eine Zusammenarbeit zu sein schienen, auch hinsichtlich der Entschädigung für Kriegsopfer. Doch die Hoffnungen auf einen Honigmond waren schnell verflogen.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine, die unentschlossene Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz, aber besonders die zögerlichen Entscheidungen für Waffenlieferungen wurden von der polnischen Rechten als willkommene Gelegenheit zu einem propagandistischen Frontalangriff auf die Deutschen erkannt. Kaczyński und mit ihm alle rechtsgerichteten Medien machten Berlin für die russische Aggression verantwortlich. Wieder einmal wurden die üblichen Vorwürfe in Stellung gebracht, Deutschland wolle ein „Viertes Reich“ errichten, ebenso wie die Forderungen nach Kriegsreparationen.

Was erwartet sich die polnische Rechte von Merz?

Die polnische Rechte hat sich besonders von Merz’ scharfer Kritik an der deutschen Ukrainepolitik überzeugen lassen. Von Kriegsbeginn an rief der deutsche Oppositionsführer Scholz zu entschlosseneren Maßnahmen auf, darunter zur Lieferung schwerer Waffen einschließlich Panzern. Er kritisierte den Kanzler für seinen Aufschub der Reise nach Kiew und reiste schließlich selbst dorthin, womit er dem Rivalen zuvorkam. Die Missverständnisse zwischen Polen und Deutschland beim Ringtausch von Panzern veranlassten Merz ein weiteres Mal, Berlin Fehler vorzuhalten. Er merkte an, die Polen könnten sich betrogen fühlen. Die Ukraine ist allerdings nicht das einzige Thema, bei dem die Unionsparteien und die polnische Rechte Gemeinsamkeiten finden. Merz befürwortet die Rückkehr zur Nutzung der Nuklearenergie oder zumindest zur Verlängerung der Laufzeiten der letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke, die Ende diesen Jahres stillgelegt werden sollen.

Berührungspunkte von CDU und PiS

Zudem verbirgt der CDU-Chef nicht seine Skepsis gegenüber bestimmten Ideen der Europäischen Union wie derjenigen, außen‑ und sicherheitspolitische Entscheidungen mit Stimmenmehrheit statt wie bisher einstimmig zu treffen. Merz scheut nicht davor zurück zuzugeben, die deutsche Seite erfülle beim Polnischunterricht in Deutschland nicht ihre vertraglichen Verpflichtungen. Merz geht mit der deutschfeindlichen Propaganda pragmatisch um. Es sei dabei zwischen der von innenpolitischen Erwägungen bestimmten Kritik und begründeter Kritik zu unterscheiden.

Innerhalb der CDU ist die Ansicht populär, Polen solle in der Europäischen Union gemeinsam mit Deutschland und Frankreich eine größere Rolle spielen. Unlängst äußerte der Politveteran Wolfgang Schäuble in der „Welt am Sonntag“ eine entsprechende Meinung; dieser übt zwar gegenwärtig kein Staatsamt aus, hat aber immer noch großen Einfluss in der CDU.

Es ist nicht ganz klar, ob Merz’ Flirt mit der nationalkonservativen Regierung in Warschau ausschließlich von seiner immer stärker polarisierenden Opposition zur SPD-geführten Regierung bestimmt ist, oder ob er von der Dringlichkeit des Dialogs mit Polen überzeugt ist, unabhängig von der jeweiligen Regierung in Warschau.

In strittigen Fragen, an denen PiS besonders liegt, wie Kriegsreparationen und Rechtsstaatlichkeit, blieb Merz unnachgiebig. Es gebe keine rechtlichen Grundlagen für Reparationen, gab er sowohl öffentlich als auch im Gespräch mit Kaczyński zu Protokoll.

Merz und Kaczyński gehören derselben Generation an; der PiS-Vorsitzende ist sieben Jahre älter als der CDU-Chef. Trotzdem stand der Deutsche unter dem Eindruck, er spreche mit einem Menschen aus einer anderen Epoche. Für ihn war überraschend, wie sich Kaczyński in langen historischen Exkursen erging, so etwa über die Hintergründe des deutsch-polnischen Zollkriegs von vor mehr als einhundert Jahren.

Konfrontation oder Kooperation?

Selbst im Falle eines Regierungswechsels in Berlin wird aus der deutsch-polnischen Annäherung nichts werden, solange die polnische Rechte glaubt, der Krieg Russlands gegen die Ukraine und seine politischen und ökonomischen Folgewirkungen böten eine günstige Gelegenheit, Deutschland an den Pranger zu stellen und seine Stellung in Europa und der Welt zu schwächen, nicht hingegen zu verstärkter Zusammenarbeit namens der europäischen Solidarität mit der Ukraine.

In Anbetracht der engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Polen und Deutschland ist die von Politikern und Publizisten bekundete Schadenfreude wegen der deutschen Probleme mit der Gasversorgung ein Beleg für den Verlust von Selbsterhaltungsinstinkt. Selbst ein scharfer Kritiker der deutschen Wirtschaftspolitik wie der vormalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis appellierte unlängst an die Europäer, sie mögen sich doch nicht über das Unglück Deutschlands lustig machen.

Nach der Begegnung mit Kaczyński betonte Merz die Höflichkeit seines Gesprächspartners. Dieser Eindruck passt ganz zu der immer schon gepflegten PiS-Taktik, nämlich hinter geschlossenen Türen pragmatische Gespräche mit ausländischen Politikern zu führen, während in der Öffentlichkeit hemmungslose Attacken geritten werden.

Die deutschfeindlichen Parolen sind immer noch im Schwange

Kaczyńskis jüngstes Interview mit der Wochenzeitschrift „Sieci“ (Netzwerke) lässt keinen Zweifel daran, dass der führende Mann der polnischen Rechten nicht vorhat, seine Taktik zu ändern. „Deutschland kämpft für die Errichtung eines deutsch-russischen Gebildes, das ihm die vollständige Macht in Europa bei nur geringfügiger französischer Teilhabe gewähren würde,“ sagte Kaczyński. Deutschland gehe es um die „Erfüllung eines mehr als tausendjährigen Traumes und die Dominanz in Europa“. In dem Interview kehrte der PiS-Vorsitzende wiederholt zu deutschen Fragen zurück und unterstellte, Ziel der Europäischen Union sei es, Polen zu zerschlagen und es unter die „vollständige Botmäßigkeit zu Deutschland“ zu zwingen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen Merz’ Schlüsse aus seinen Gesprächen in Polen geradezu naiv, die Polen würden von Deutschland konkrete Maßnahmen und entschlossenere Führung erwarten.

Am 1. September, dem 83. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, soll der erste Teil eines in jahrelanger Arbeit verfassten Berichts zu den polnischen Kriegsverlusten veröffentlicht werden. Dieses Dokument soll als Grundlage für die Erwirkung von deutschen Kriegsreparationen dienen. Die Zeit wird erweisen, ob diesmal nach griechischem Vorbild den Worten konkrete Taten in Richtung Berlin folgen werden, oder ob die Reparationsfrage weiter nur eine Propagandakeule für die Titelseite der rechten Presse bleiben wird.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Titelbild: Tobias Koch/CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag/dpa

Graphische Bearbeitung: DIALOG FORUM

Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz ist Germanist, Historiker und Journalist. Er arbeitet mit der Deutschen Welle zusammen. Zuvor war er Berlin-Korrespondent der Polnischen Presseagentur sowie Warschau-Korrespondent der DPA.

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