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Das Tor – Eine Geschichte über einen historischen Ort

Michał Szlaga hat sein Buch dem Tor 2 gewidmet, das zur Danziger Werft führte. Es ist ein besonderes Tor, denn es ist zum Symbol für den Arbeiteraufstand in der Volksrepublik Polen geworden. Am 16. Dezember 1970 wurden die Werftarbeiter, die durch dieses Tor hinauskamen, von militärischen Truppen beschossen. Von diesem Tor aus erklärte Lech Wałęsa am 31. August 1980 das Ende des Streikes und die Unterzeichnung des Augustabkommens. Nach der Verhängung des Kriegsrechtes im Dezember 1981 wurde das Tor von einem Panzer zerquetscht und „verbogen und auf das verschneite Pflaster geworfen“, wie Roman Nieczyporowski in der Einführung zu Michał Szlagas Buch schreibt, und „symbolisierte damit für die Herrscher der Volksrepublik Polen die zerschlagene Widerstandsbewegung.“ An die Stelle des zerstörten Tores wurde ein neues angebracht, das wieder zum Symbol für den Widerstand wurde.

Brama – Michał Szlaga

Es steht bis heute. In der Dritten Republik Polen wurde die Aufschrift „Lenin-“ entfernt, dafür steht dort das Zeichen der Solidarność. Zusammen mit dem 1980 erbauten Denkmal für die gefallenen Werftarbeiter und der gleich daneben gelegenen Arbeitsschutzhalle, in dem das Augustabkommen verfasst wurde, ist es einer der wichtigsten polnischen Erinnerungsorte. Der Orte, die – wie Pierre Nora in seinem Text Mémoire collective schrieb – einzelne Nationen oder Gesellschaften als einen immanenten Teil ihrer Identität verstehen. Gleich neben dem Tor 2 wurde das Gebäude des Europäischen Solidarność-Zentrums mit den charakteristischen rostbraunen Wänden errichtet, 2014 wurde es für das Publikum geöffnet. Aktuell bilden die Objekte die Ausstellung „Wege zur Freiheit“ (ein Teil davon sind die „Tore“ von Grzegorz Klaman, eine Raumkomposition, die zum 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Augustabkommens aufgestellt wurde und zu den ungewöhnlichsten Kunstwerken der letzten Jahrzehnte in Polen gehört; über sein Schicksal wird wegen der Bebauung des einstigen Werftgeländes gerade entschieden).

Doch die Werft, zu der das Tor 2 einst führte, gibt es nicht mehr. Auf dem ehemaligen Werftgelände, auf dem historischen Gebiet der Jungstadt, entsteht ein moderner Handels- und Dienstleistungsbezirk, der den Charakter dieses Teils von Danzig wesentlich verändern wird. Die postindustrielle Bebauung mit den charakteristischen, derzeit unter Denkmalschutz stehenden Kran-Silhouetten infiltriert immer stärker die zeitgenössische Architektur. Und in dem alten Gebäude, das für die Berufsschule für Schiffbau errichtet wurde, wurde kürzlich das NOMUS – Museum für Neue Kunst untergebracht. An seiner Fassade wurde die Neonschrift „Nowe Życie“ [Neues Leben] der Künstlerin Elżbieta Jabłońska befestigt.

Michał Szlaga beobachtet seit Langem das Los der Danziger Werft. Fotografiert hat er sie zum ersten Mal im Jahr 2000, drei Jahre später ist dann sein Fotoalbum mit dem Titel Stocznia [Werft] erschienen, in dem zu sehen ist, wie das Werftgelände verfällt, wie einige Gebäude zu Ruinen zerfallen, andere abgerissen werden, meist historische Baudenkmäler, die noch aus deutschen Zeiten stammen. Auffällig war, dass auf den meisten Fotografien keine Menschen waren. Als würde die Werft still, beinahe unbemerkt in die Vergangenheit entschwinden. Dies sei vielleicht deshalb so, weil – wie Michał Szlaga in einem Gespräch mit Piotr Kała auf der Internetseite fotoblogia.pl sagt – „die Menschen von außen nicht die Möglichkeit hatten, diesen Betrieb von innen kennenzulernen, und ihn deshalb wie eine Masse behandelten: abgesehen von der historischen Arbeitsschutzhalle und der Kräne, die von der Stadtbahn und dem Eingangstor aus zu sehen sind, konnte man einfach mit der ,Säuberung‘ dieses Ortes für neue Investitionen beginnen.“

Er selbst konnte jahrelang die vor sich gehenden Veränderungen aus der Nähe beobachten. Seinem Buch Brama [Das Tor] liegt ein Brief von ihm bei. Als „Bewohner des Mietshauses, das am Solidarność-Platz steht“, schreibt er darin, „habe ich aus dem Bauch heraus über 6.000 Szenen festgehalten, deren Zeuge ich zufällig auf dem täglichen Weg zu meinem Atelier wurde, das sich damals im Gebäude der einstigen Werftdirektion befand – der Weg dahin führte über den Platz, durch das Tor und über den sogenannten ,Weg zur Freiheit‘.“

Brama- Michał Szlaga

Die ersten Fotos, die in Brama abgedruckt sind, hat der Autor 2000 gemacht. Dann entstanden weitere, bis 2014. Letztlich haben 1.237 davon den Weg in den mit viel Sorgfalt gestalteten Hardcover-Band gefunden. Die gesamte Typografie im Buch und die Anordnung der Fotos erinnern an alte Publikationen aus dem 19. Jahrhundert, die meist der Kunst und Landschaften gewidmet waren – als wollte der Autor zusätzlich den historischen Charakter der Publikation betonen. Mit einem wesentlichen Unterschied: Das Buch zeigt vor allem Fotografien, während die Texte nur wenig Platz einnehmen. Er hat auch die originalen Bildformate der Fotos beibehalten, die mit einem unscheinbaren Olympus Mju gemacht wurden. Die Farbigkeit der Fotos wurde nicht manipuliert, in das fotografische Bild selbst nicht eingegriffen. Dank dessen hat Szlaga eine gewisse Unbelassenheit und Schlichtheit beibehalten, die Brama zu einem der originellsten Fotoalben der letzten Jahre macht.

Auf seinem täglichen Weg lief Michał Szlaga immer an denselben Stellen vorbei. Manchmal traf er dieselben Menschen. Es wechselten nur die Jahreszeiten und die alte Werft veränderte sich. Auf den Fotografien kommen immer wieder der Platz mit dem Tor und das Denkmal für die Werftarbeiter vor. Die Straßen, die Szlaga auf seinem Weg ins Atelier entlanglief, und die Gebäude, an denen er vorbei musste. Diese Wiederholungen führen dazu, dass Brama an ein fotografisches Tagebuch erinnert, in dem der Alltag und die Festtage stets nebeneinander stehen. Ein Foto von einer Familie, die einen Schneemann baut, steht neben Fotos von Feierlichkeiten verschiedener Jahrestage und Besuchen von Gewerkschaftsdelegationen. Es kommen Werftarbeiter, Bewohner, aber auch Touristen vor. Hier gibt es Lech Wałęsa und Jarosław Kaczyński, Andrzej Gwiazda mit seiner Frau Joanna, Bogdan Borusewicz und Pater Henryk Jankowski. Hier ist auch Arkadiusz „Aran“ Rybicki, dem Michał Szlaga – neben Henryk Wujec und Aleksandra Olszewska, sprich der legendären Frau Ola, die jahrelang diesen Ort gepflegt hat – sein Buch widmet.

Szlaga hat die Docks fotografiert, in denen weiterhin Schiffe entstanden sind, aber auch zu Ruinen zerfallende Gebäude und den Abriss historischer Bauten. Er hat Details eingefangen, so zum Beispiel die Ikonografie, auf die sich früher oft bezogen wurde: die am Tor stets präsenten Bildnisse der Schwarzen Madonna von Tschenstochau, von Johannes Paul II und Kardinal Stefan Wyszyński. Gleichzeitig hat er nicht das ausgelassen, was normalerweise übersehen wird, wie zum Beispiel einen Stoß alter Bücher, die auf die Straße geworfen wurden.

Er hat Proteste fotografiert, an denen es nicht fehlte. Sie betrafen Eigentumsumwandlungen und die Streichung von Arbeitsplätzen, aber auch symbolische Themen, wie die Entscheidung der Stadtverwaltung, im Mai 2012 dem Tor sein historisches Aussehen wiederzugeben, darunter die Aufschrift „Leninwerft“ und den Orden des Arbeitsbanners. Die Aufschrift war besudelt, abgedeckt, und schließlich zusammen mit dem Orden der Volksrepublik abgefeilt worden.

Auf den Fotos von Michał Szlaga vermischt sich Regionalität mit gesamtpolnischen Fragen. Hier sind das Flugzeugunglück von Smolensk zu sehen und die Präsidentschaftswahlen von 2010. Er selbst übernimmt die Rolle des Zeitzeugen. Szlaga versucht – so beschreibt es der litauische Fotograf und Kurator Gintaras Česonis in seinem Text im Buch – „die Gegenwart genau in dem Moment einzufangen, in dem sie Vergangenheit wird“. Dank dieser Fotos ist eine Geschichte entstanden, die viel über das heutige Polen und seine aktuellen Spaltungen erzählt. Sie ermöglicht es, die Anfänge dessen zu erkennen und die gesellschaftlichen Stimmungen und politischen Entscheidungen zu rekonstruieren, die zur heutigen Situation geführt haben. Brama erzählt, so der Autor in einem Gespräch mit Emilia Dłużewska für die Tageszeitung Gazeta Wyborcza, „von Hilflosigkeit, Unfähigkeit, menschlichen Abneigungen und von vierzig Jahre alten Wunden.“

Von Bedeutung ist, dass die Fotos im Buch keine Titel und Daten haben. Man muss sich selbst überlegen, wann sie entstanden sind und was sie zeigen. Man muss in seiner eigenen begrenzten Erinnerung kramen. Zusätzliche Informationen kommen erst bei den letzten Fotografien im Buch. Sie entstanden 2014 und stellen den „Stapellauf des ECS“ [Europäisches Solidarność-Zentrum] und die Eröffnung der Ausstellung „Wege zur Freiheit“ dar. Diese beiden Projekte waren der Schlussakkord für die offizielle Geschichtsschreibung der Solidarność. Im Europäischem Solidarność-Zentrum wird diese Geschichte erzählt, in der die Unterzeichnung des Augustabkommens der Beginn der Dritten Republik Polen ist. Aber es gibt auch – und daran erinnert das Buch von Michał Szlaga – eine andere Geschichte der Solidarność, in der es andere Helden der Ereignisse des Jahres 1980 gibt. Und deren symbolischer Ort die Arbeitsschutzhalle ist, die weiterhin dem Gewerkschaftsbund Solidarność gehört.

Ein besonderes Postskriptum sind die letzten Fotos im Buch. Sie sind alle am 31. August 2020 entstanden. Eines von ihnen wurde beim Bürgerforum Solidarność na nowe czasy [Solidarność für neue Zeiten] gemacht, dessen Organisator unter anderem das ECS war. Ein anderes Foto zeigt von einem Balkon aus den Himmel während eines Konzertes, das an diesem Tag vom Polnischen Fernsehen organisiert wurde. Schließlich sind da drei Fotos von den Zentralen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Augustabkommens mit Andrzej Duda, der eine Rede hält. Sie alle zeigen sehr gut die beiden radikal verschiedenen polnischen historischen Gedächtnisse. Noch bedeutsamer sind aber zwei Fotos, die sich auf den Innenseiten des Buchumschlages befinden. Eins zeigt den 25. Jahrestag des Augustabkommens. Darauf sind unter anderem Lech Wałęsa und Aleksander Kwaśniewski, der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel und der damalige Präsident der Ukraine Wiktor Juschtschenko zu sehen. Abgebildet sind auch Janusz Śniadek, der damalige Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes Solidarność, und José Manuel Barroso, der zu der Zeit Vorsitzender der EU-Kommission war. Die zweite Fotografie, die am selben Tag gemacht wurde, zeigt Pater Henryk Jankowski umgeben von Gewerkschaftlern. Beide Fotos erinnern daran, wie lange es her ist, dass die Spaltung Polens begonnen hat, die nicht überwunden werden konnte, oder die nicht versucht wurde zu überwinden. Schlimmer noch, denn oft wollte man diejenigen, die sich in der Dritten Republik Polen am Rande befanden, gar nicht wahrnehmen. Für viele von ihnen war die Danziger Werft und ihr Schicksal ab 1989 ein wichtiges Symbol. Brama von Michał Szlaga erinnert daran, stellt aber auch Fragen nach Fehlern und Unterlassungen. Und schließlich zeigt es, dass heute wohl nichts die Polen und Polinnen so stark spaltet, wie das, was sie einst vereint hat.

 

Michał Szlaga, Brama, Oficyna Gdańska, Muzeum Narodowe w Gdańsku. Gdańsk, 392 Seiten

 

 

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller

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Piotr Kosiewski

Piotr Kosiewski

Piotr Kosiewski ist Historiker, Kunstkritiker und Publizist. Er schreibt regelmäßig für die polnische Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny” und das Magazin „Szum".

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