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„Contrapunct“

Im Wiener Künstlerhaus wird aktuell eine Gruppenschau mit Arbeiten von 14 ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt. Die meisten der vorgestellten Werke entstanden nach dem 24. Februar. Mit der Kuratorin der Ausstellung, Jana Barinowa sprach Aureliusz Marek Pędziwol.

Aureliusz M. Pędziwol: Können Sie uns ein wenig über sich selbst erzählen?

Jana Barinowa: Ich komme aus der Ukraine. Geboren wurde ich in Odessa. Nach Wien kam ich eine Woche nach dem Kriegsausbruch; seit März bin ich mit meiner Tochter hier. Früher war ich in der Kiewer Stadtverwaltung als Stellvertreterin des Bürgermeisters für Kultur zuständig. Ich war verantwortlich für die Stadtkultur und leitete fast 300 Institutionen: Museen, Theater, Bibliotheken, Parks, Galerien, Konzertsäle. Zuvor arbeitete ich im Kulturministerium. Und noch davor war ich fünf Jahre lang Leiterin der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar. Ich habe einen Doktortitel in Kunstwissenschaft, die Dissertation habe ich an der Sorbonne in Paris verteidigt. In Wien bin ich für zwei Organisationen tätig: als Projektleiterin für die Erste-Stiftung sowie als Entwicklungsleiterin für Viennacontemporary.

Was war der Leitgedanke dieser Ausstellung?

Die Idee war, dem europäischen Publikum die Ukraine vorzustellen, die Vielfalt unserer Kunstszene, unserer künstlerischen Milieus, unserer Künstlerinnen und Künstler, die verschiedenen Techniken, mit denen sie arbeiten, zu zeigen. Wir bezwecken damit, wiederholt daran zu erinnern, dass zehn Stunden Autofahrt von hier aus Krieg herrscht. Letztlich geht es um die Förderung der ukrainischen Kunstschaffenden. Wir haben Verträge mit ihnen abgeschlossen, Honorare bezahlt, ihre Werke ausgestellt. Das wird ein Teil ihres Portfolios sein. Ich bin dem Künstlerhaus für diese Geste und diese Idee dankbar. Sie haben mich gebeten, die Ausstellung zu kreieren, dann habe ich das Konzept ausgearbeitet, Künstlerinnen und Künstler eingeladen und … hier sind wir.

Wer sind die Künstlerinnen und Künstler?

Sie sind 14 an der Zahl, mehrheitlich Frauen. Fast alle ausgestellten Arbeiten entstanden nach dem 24. Februar. Folglich ist das eine Reflexion über den andauernden Krieg in der Ukraine. Fünf Künstlerinnen haben in Österreich gearbeitet, im Rahmen des Programms „Artist in Residence“ in Linz, Graz, Salzburg, Wien und Gmunden. Ich ermittelte, wo sie sind, was sie machen. Wir schafften Werke aus ganz Österreich hierher.

Und die anderen? Werden in der Schau Kunstschaffende ausgestellt, die noch in der Ukraine leben?

Ja, manche Künstlerinnen und Künstler sind noch in der Ukraine, manche in anderen Teilen Europas und sie wurden heute hier vorgestellt: Julia Bielajewa, Halyna Andrusenko, Kateryna Lysowenko. Zur Ausstellungseröffnung sind 250 Leute gekommen. Das erfreut mich sehr und ich bin stolz darauf, was wir erreicht haben.

In der Ausstellung habe ich die Grafikserie „Asow“ gesehen. Können Sie etwas dazu sagen?

Schon. Diese schwarz-weißen Comics – die Grafiken wurden im Comic-Still gemacht – sind das Werk von Daniil Niemyrowski. Er war dort, in Mariupol, während der russischen Besatzung, und hat sich im Keller versteckt. Einmal hatte er nur einen Federhalter mit roter Tinte dabei, deswegen sind manche seiner Arbeiten in Rot. Sie wurden an ein Museum verkauft. Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht an dessen Namen erinnern …

Womöglich steht es im Katalog.

Diese Werke sind noch nicht verfügbar. Das, was wir hier haben, ist eine absolute Ausnahme. In meinen Augen gehören diese Grafiken zu den wichtigsten Exponaten dieser Ausstellung.

Und die anderen? Welche sind für Sie auf irgendeine Art und Weise besonders wichtig?

Die Arbeiten von Olia Fiedorowa – die Leinwände mit Gedichten auf Ukrainisch. Wissen Sie, dass heute der Tag der ukrainischen Sprache ist?

Genau heute?

Tatsächlich. Sowie der nationale Tag der Kulturmitarbeitenden in der Ukraine. Insofern ein sehr symbolträchtiger Tag, um eine solche Ausstellung zu eröffnen.

Haben Sie deshalb dieses Datum gewählt?

Nein, nein. Davon habe ich erst später erfahren.

Durch Zufall?

Eben. Aber es ist für uns ein Zeichen dafür, den richtigen Weg gewählt zu haben. Ich mag ebenso die Arbeiten von Maria Kulikowska, Aquarellen auf den Ausreisedokumenten, auf den für die Immigration benötigten Papieren.

Meinen Sie diese vertikale Komposition?

Stimmt. Sie ist so kraftvoll. Und diese Bleistiftskizzen mit Denkmälern, die in Sandsäcke verpackt sind, um sie vor Bomben zu schützen. Das ist eine Dokumentation dieser Zeit, dieser Epoche.

Wissen Sie, ich hätte niemals gedacht, wir würden jemals in eine solche Situation geraten, die auch zu unserer Realität wird … So haben diese Werke für mich eine gewisse dokumentarische Dynamik. Vielleicht sind sie dadurch meine Lieblingsarbeiten?

Der Titel der Gesamtschau lautet „Contrapunct“, stimmt?

Ja.

Warum?

„Contrapunct“ ist eine Mischung und zugleich Harmonie verschiedener Optiken, verschiedener Ansätze. Zu sehen ist einerseits die Vielfalt der einzelnen Regionen, aus denen die Künstlerinnen und Künstler kommen, andererseits die Unterschiedlichkeit der verwendeten Techniken: Stoffe, Holz, Aquarelle, Bleistiftzeichnungen, Tintengrafiken, Steinskulpturen. „Contrapunct“ stellt eine Kombination verschiedener Dinge dar, die sich dann zu einer Erzählung zusammenfügen. Und somit beschreibt die Ausstellung die wahrscheinliche Dualität unserer Welt. Für mich handelt „Contrapunct“ davon. Dies ist ein vielschichtiger philosophischer Begriff.

Und welche Geschichte erzählt diese Ausstellung? Eine über den Krieg?

Richtig. Wie Menschen den Krieg erleben. Zum Beispiel hat Daryna Mykytiuk den Krieg durchlebt, indem sie Pop-Art Werke schuf, um ihn zu zeigen. Man könnte sagen, es sei etwas Positives, Farbenfrohes, mit keinerlei Verbindung zum Krieg. Doch es ist ihre Art, wie sie das alles erlebt und fühlt; so hat sie es in ihre Kunst übersetzt.

Gleichzeitig sehen Sie die eindeutigen Bilder aus Mariupol, Asowstal. Eine Mutter mit Kind auf dem Arm, Menschen ohne Arme, ohne Beine. Dies beweist, wie unterschiedlich die Menschen reagieren und eine solche Kriegserfahrung verinnerlichen. Ich wollte auf diese Unterschiede in unserer Sicht auf den Krieg aufmerksam machen.

Wissen Sie, ich hatte die ganze Zeit Fotos gemacht und konnte die Werke nicht so genau betrachten. Dennoch ist mein erster Eindruck, es sei überhaupt nicht so dramatisch, nicht so tragisch …

Weil es gar nicht das Ziel war! Viele der Kunstschaffenden wollen keine brutale Gewalt und blutige Leichen zur Schau stellen. Sie empfinden das anders. Dadurch werden dann andere Dinge angeregt, wie die schon erwähnte Pop-Art. Mykytiuk ist, wie viele von uns, aus der Ukraine geflohen, sie hat dort ihre Familie zurückgelassen. Ihre Kunst ist das, was sie fühlt; sie erschuf die Venus, weil sie glaubt, dieser Krieg habe das Gesicht einer Frau.

In diesem Krieg sind wirklich sehr viele Frauen – Mütter, Ehefrauen, Töchter, Schwestern. Sie gehen auch in die Armee. Sie meint jedoch, die ukrainische Frau sei eine Göttin und zeigt uns die Venus. Das ist die moderne ukrainische Frau; sie kämpft ebenfalls um die Unabhängigkeit der Ukraine. Es sind also 14 Künstlerinnen und Künstler, 14 Interpretationen des Krieges und 14 Sichtweisen, was eben sehr interessant ist.

Die Schau wird bis Ende November zu sehen sein; was passiert dann, wird sie noch an anderen Orten gezeigt?

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich wurde von einer bestimmten Institution eingeladen, deswegen weiß ich nicht, ob jemand anderes die Ausstellung zeigen möchte. Ich würde sie gerne wiederholen. Allerdings bin ich von Beruf keine Kuratorin. Eher eine Person, die Kulturinstitutionen betreut. Da ich aber in Kunstwissenschaft promoviert habe, verfüge ich über eine gewisse Sensibilität. Und wenn jemandem die Ausstellung gefällt und er vorschlägt, sie woanders vorzustellen, dann sage ich … mit Vergnügen!

Dann vielleicht die letzte, persönliche Frage: Was sind Ihre Pläne?

Meine Pläne? Einige Zeit lang in Wien leben. Meine Tochter geht in die Schule und solange der Krieg in der Ukraine andauert, werden wir bleiben.

Und nach dem Krieg?

Wir werden sehen. Wir wissen nicht, wie groß die Zerstörungen sind. Wir kennen die Grenzen nicht. Wir wissen nicht … Es ist schwer, darüber zu sprechen. Selbstverständlich träume ich davon, zurückzukehren, davon, zum Aufbau der Ukraine nach dem Krieg und zur besseren Führung des Landes beizutragen. Ich habe angemessene Kompetenzen und die Energie, um das zu tun. Allerdings ist die Sicherheit meines Kindes für mich das Wichtigste. So werde ich jetzt nicht dorthin fahren.

Ich bedanke mich sehr für das Gespräch.

Danke.

Alles Gute! Слава Україні!

Слава Україні! Vielen Dank.

 

Das Gespräch wurde am 9.11.2022 während der Vernissage geführt.


Jana Barinowa, Publizistin, soziale Aktivistin und Wissenschaftlerin, Mitglied des Organisationskomitees des Nationalen Geschichts- und Gedenkreservats Babi Jar; Autorin vieler Publikationen zur Kultur, menschenfreundlichen Politik, Menschenrechte und zum Holocaust.

 

 

 


Aureliusz M. Pędziwol Autor bei DIALOG FORUMAureliusz M. Pędziwol, Journalist, Mitarbeiter der polnischen Redaktion der Deutschen Welle, zuvor der polnischen Sektionen von BBC und RFI sowie der in Paris erscheinenden polnischen Zeitschrift „Kultura“; zwanzig Jahre lang Korrespondent des Wiener „WirtschaftsBlatts“.

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