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Reaktivierung des Weimarer Dreiecks – gelingt Tusk eine Annäherung zwischen Scholz und Macron?

Die Demonstration von Einheit im Berliner Kanzleramt nahm sich imposant aus. Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Donald Tusk hielten je eine kurze Ansprache und reichten sich dann die Hände zu einem langen und kräftigen, wenn auch etwas gezwungen wirkenden Händedruck. Der Höhepunkt des Gipfeltreffens der Regierungschefs des Weimarer Dreiecks am Freitag, den 15. März 2024 in Berlin hatte jedoch einen gewichtigen Mangel.

Die Regierungschefs ließen keine Fragen aus der Presse zu und zogen sich nach dem Händedruck rasch in die Räumlichkeiten des Kanzleramts zurück, in die Journalisten keinen Zugang haben. Das war der seltene Fall eines Bruchs mit der guten Tradition, wie er meist dann gewählt wird, wenn Politiker es vorziehen, unbequemen Fragen auszuweichen. Das allein schon gibt bereits einen Hinweis darauf, wie brüchig die in Berlin erzielte Einigung wohl sein mag.

Fürchteten etwa Macron und Scholz solche Fragen, die womöglich die demonstrative Einigkeit zwischen Berlin und Paris hätten in Zweifel ziehen können? Und welche Rolle spielte dabei der polnische Ministerpräsident? Verfügt Tusk über ausreichende Autorität, um sie dazu zu zwingen, das Kriegsbeil zu begraben?

Es besteht kein Zweifel, dass Frankreich und Deutschland gegenwärtig nicht dazu in der Lage sind, die Europäische Union so wie in den vergangenen Jahrzehnten zu führen. Besonders in Fragen der Sicherheit und des Kriegs in der Ukraine erscheint Polen als unerlässlicher Partner. Die mit ganz Europa und besonders mit Deutschland zerstrittene PiS-Regierung vermochte dieses Potential nicht zu nutzen. Nach dem Regierungswechsel in Polen kamen in der EU Hoffnungen auf, das mitteleuropäische Land werde sich erneut dem inneren Kreis der Entscheidungsträger anschließen.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist seit längerer Zeit sehr angespannt und hat sich in jüngster Zeit nochmals dramatisch verschlechtert. Das neuste Kapitel deutsch-französischer Meinungsverschiedenheiten wurde Ende Februar von Macron eröffnet, als er auf einer Konferenz in Paris den Einsatz von Truppen der NATO in der Ukraine nicht ausschloss. „Es gibt in dieser Phase keinen Konsens […], Truppen dorthin zu schicken. Wir können nichts ausschließen. Wir werden alles tun, was wir müssen, damit Russland nicht gewinnt“, sagte der französische Präsident.

Die Reaktion von Scholz kam prompt: Es werde keine Truppen Deutschlands und der NATO auf ukrainischem Gebiet geben, sagte der Bundeskanzler. „Aber wir werden alles dafür tun – und dafür stehe ich als Kanzler –, dass es nicht zu einer Eskalation dieses Krieges, zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato kommt.“ Damit war das jüngste Wortgefecht zwischen den Regierungschefs der beiden wichtigsten EU-Länder eröffnet.

Scholz innenpolitische Lage ist nicht zu beneiden. Die Koalitionspartner seiner SPD, die Grünen und die FDP, üben auf ihn Druck in Sachen der Lieferung von Taurus-Lenkflugkörpern an die Ukraine aus. Der Druck kommt von der oppositionellen CDU/CSU ebenso wie aus der eigenen Koalition, doch Scholz lehnte auf der Bundestagssitzung vom Mittwoch, den 13. März, definitiv die Ausstattung der Ukrainer mit Taurus ab. Obwohl das von einigen Experten in Zweifel gezogen wird, argumentierte er, dass weitreichende Lenkwaffen den Einsatz deutscher Soldaten erforderten, was er nicht zulassen könne. „Sie täuschen die Öffentlichkeit“, entgegnete Norbert Röttgen von der CDU.

Zu einem wirklichen Skandal kam es jedoch erst am folgenden Tag, und er wurde von dem Fraktionsvorsitzenden der SPD im Bundestag Rolf Mützenich ausgelöst. „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“, überlegte der Sozialdemokrat im Bundestag. Die Kameras zeigten das empörte Gesicht der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock und anderer Politiker der Regierungskoalition. Niemand von ihnen applaudierte dem Kollegen von der SPD. Zudem kritisierten Abgeordnete der Grünen und der FDP offen den Vorsitzenden der größten Fraktion der Koalition.

Die Grünen-Abgeordnete Agnieszka Brugger warnte, eine Verzögerung der Hilfe könne ebenso gut den Konflikt eskalieren lassen. „Wir sind uns alle der Tragweite dieser Entscheidungen bewusst, und das lassen wir uns als Grüne von niemandem absprechen, auch nicht vom Bundeskanzler.“

Alexander Müller (FDP) fügte hinzu: „Wir wollen die Ukraine mit allem unterstützen, was wir haben, mit allem, was sie braucht, mit allem, was wir abgeben können. Und ja, aus unserer Sicht, aus Sicht der Freien Demokraten, gehört auch der Taurus mit dazu […] Es darf überhaupt keine Diskussion darüber geben, dass das Bündnisversprechen hält und damit klare Kante gegenüber Putin gezeigt wird. Das respektiert er. Alles andere sieht er nur als Unterwürfigkeit.“

Der CDU-Abgeordnete Johann David Wadephul setzte das Pünktchen auf das i, indem er sich direkt an den Kanzler wandte: „Nein, Ihre vermeintliche Besonnenheit hat Herrn Putin in seiner Aggression gegen die Ukraine immer wieder nur befeuert.“

Deutsche Kommentatoren warnen die SPD vor einem Rückfall in die alten Missgriffe ihrer Russlandpolitik. Es fehle nur noch, dass Mützenich Merkel reaktiviere, die mit solchem Erfolg geholfen habe, den Krieg in der Ostukraine nach der Besetzung der Krim einzufrieren, meinte Berthold Kohler ironisch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (16. März 2024). Putin habe die von Merkel in Minsk ausgehandelte Pause bei den Kriegshandlungen genutzt, um sich auf den Krieg gegen die Ukraine vorzubereiten.

Sollten die deutschen Sozialdemokraten etwa Gerhard Schröders Manöver von 2002 wiederholen wollen? Der in der Wählergunst verlierende SPD-Kanzler setzte damals im Wahlkampf auf seinen demonstrativen Widerstand gegen die von den USA geplante Intervention im Irak und konnte so im letzten Augenblick noch eine Mehrheit gewinnen.

Forderungen nach dem „Einfrieren des Kriegs“ könnten nach Meinung politischer Beobachter ein ähnliches Ziel verfolgen. Im September finden in Deutschland drei wichtige Landtagswahlen statt, in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Im Augenblick sehen die Meinungsumfragen düster für die Sozialdemokraten aus.

Landesweit schwanken die Ergebnisse für die SPD um die fünfzehn Prozent, während die CDU/CSU auf ungefähr das Doppelte kommt. Die SPD wird auch von der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) überboten. Noch schlechter steht es in Sachsen und Thüringen, wo die SPD gerade einmal noch auf sieben Prozent kommt.

Es ist durchaus möglich, dass sich Scholz den Wählern in Ostdeutschland, wo der Krieg ausgesprochen unpopulär und die Sympathien für Russland stärker als andernorts sind, als „Friedenskanzler“ präsentieren will. Das gilt jedenfalls für die linken und pazifistischen Flügel der Partei, in dessen Namen Mützenich spricht.

In Erkenntnis von Scholz’ Schwäche will sich Macron als Führer Europas in Stellung bringen; dazu dienen seine Vorschläge über eine eventuelle Entsendung von Truppen in den Ukrainekrieg. Doch auch der französische Präsident hat innenpolitische Rücksichten zu nehmen, und Marine Le Pen ist für seine politische Zukunft sicher eine noch größere Gefahr als die AfD für Scholz.

Kann Tusk bei diesem Stand der Dinge tatsächlich so etwas wie den „Therapeuten“ für Scholz und Macron abgeben, wie das Stefan Kornelius suggeriert, Kommentator der „Süddeutschen Zeitung“? Der unerwartete Erfolg bei den polnischen Parlamentswahlen und die Entfernung von Jarosław Kaczyńskis PiS aus der Regierung haben dem polnischen Regierungschef großen Respekt in Europa verschafft.

Sein prestigereicher Besuch in Washington hat Tusks Position noch weiter gestärkt und ihm dazu verholfen, die Rolle des Vermittlers beim Gipfeltreffen des Weimarer Dreiecks in Berlin zu übernehmen. Die Ankündigung, für die Ukraine Munition auf dem Weltmarkt zu kaufen, und die Verstärkung der ukrainischen Artillerie und den Ausbau der Munitionsproduktion zu planen, ist bemerkenswert.

Werden sich jedoch Tusks therapeutische Eingriffe als dauerhaft erweisen? Nach seiner Rückkehr aus Berlin gab Macron der Zeitung „Le Parisien“ ein versöhnliches Interview. Er vergewisserte, zwischen Frankreich und Deutschland bestünden keine strategischen Unterschiede. „Allein die Art und Weise, in der sie erklärt werden, unterscheidet sich, weil die kulturelle Strategie unserer Länder sich unterscheidet“, erläuterte der Präsident. Er erklärte, Scholz sei von der pazifistischen Kultur der SPD geprägt und Deutschland durch große Vorsicht charakterisiert, durch Nichteinmischung und Distanz zur nuklearen Rüstung. Frankreich dagegen verfüge über Atomwaffen und besitze eine Berufsarmee, die kürzlich ausgebaut worden sei. In Frankreich sei der Präsident der Garant der nationalen Verteidigung, während in Deutschland darüber das Parlament entscheide, so Macron.

Alles spricht dafür, dass Scholz und Macron nicht so sehr ihre Meinungsverschiedenheiten überwunden haben, sondern eher, vielleicht unter Tusks Fürsprache, sich entschieden haben, sie für einige Zeit nicht öffentlich auszutragen. Sind sie jedoch bereit, sie längere Zeit ganz beiseite zu legen?

Die polnische Regierung will jedenfalls das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Der Besuch des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius in Warschau war ein erster Test, ob sich der Schwung des Augenblicks weiter nutzen lässt. Sein erster Besuch als Verteidigungsminister in Polen vor einem Jahr endete in einem totalen Fiasko. Das von dem PiS-Politiker Mariusz Błaszczak geleitete polnische Verteidigungsministerium veranstaltete nichtmals eine gemeinsame Pressekonferenz; stattdessen traf Pistorius unter improvisierten Bedingungen am Piłsudski-Denkmal nahe des Präsidentenpalastes auf deutsche Journalisten.

Der aktuelle Besuch, der drei Tage nach dem Berliner Gipfel stattfand, lässt Optimismus aufkommen. Anlass dazu sind nicht allein das völlig veränderte politische Klima des Besuchs und die zwischen Pistorius und dem polnischen Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz ausgetauschten Komplimente. Die beiden Seiten haben eine Reihe von Schritten vereinbart, um der Ukraine zu helfen und bei der Gelegenheit das militärische Bündnis zwischen Warschau und Berlin zu verstärken sowie Paris darin einzubeziehen.

Polen und Deutschland sollen ein Jahr lang gemeinsam die Führung der schnellen Reaktionskräfte der EU innehaben und dabei jeweils 2500 Soldaten stellen. Beide Länder reaktivieren die „Panzerkoalition“ zur Unterstützung der Ukraine. Sie planen ferner Investitionen in die Produktion von Munition, welche die ukrainische Armee so dringend braucht. Höhepunkt der Zusammenarbeit wird ein Treffen der Verteidigungsminister im Weimarer Format im Mai in Wrocław sein.

Abgesehen von der ersten Phase seines Bestehens bis 1991, als das Weimarer Dreieck eine positive Rolle bei der Heranführung Polens an die EU spielte, war bisher eine politische Fiktion, und zur Zeit der Regierung von „Recht und Gerechtigkeit“ war es eine politische Leerformel. Die gegenwärtige Lage bietet eine reale Chance zur Wiederbelebung der informellen Plattform.

Es ist jedoch immer noch nicht klar, ob Paris und Berlin Warschau als gleichwertigen Partner anerkennen, der es verdient, in allen wichtigen europäischen Angelegenheiten gehört und konsultiert zu werden. Nicht der Eurozone anzugehören, tut Polens Position Abbruch. Auch bleibt die Frage offen, ob die durch die Auseinandersetzungen mit der Opposition gebundene Regierung Tusk ausreichend entschlossen ist, für eine starke Position in Europa zu kämpfen.

Die drei Länder des Weimarer Dreiecks spiegeln die Vielfalt Europas bestens wider – ihre unterschiedlichen Traditionen, historischen Erfahrungen, aktuellen Ziele und bekannten Ambitionen ebenso wie ihre eben dadurch gesetzten Grenzen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Berlin, Paris und Warschau, welche die Mobilisierung der gesamten EU erlaubte, würde erfordern, innenpolitische Hemmnisse zu überwinden und das größere Ganze in den Blick zu nehmen.

Bei keinem der Beteiligten ist die Bereitschaft zu erkennen, ein solches Zugeständnis zu machen. Eine Voraussetzung für die größere Effektivität der EU wäre die Ausweitung des Katalogs an Entscheidungen, die mit Stimmenmehrheit getroffen werden können. Es ist sehr fraglich, ob Tusk hier irgendwelchen Spielraum hat, wird er doch von der polnischen Rechten der Absicht bezichtigt, Polen „vernichten“ zu wollen.

Nach fast sechsjähriger Pause werden endlich im Sommer wieder deutsch-polnische Regierungskonsultationen stattfinden. Letztmals fanden sie im November 2018 statt, noch mit Beteiligung von Angela Merkel. Für dieselbe Zeit ist ein weiterer Gipfel des Weimarer Dreiecks vorgesehen; Scholz und Macron haben in Berlin Tusk gebeten, dafür den Gastgeber zu geben. Nach diesen beiden Treffen werden wir sicher mehr wissen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz ist Germanist, Historiker und Journalist. Er arbeitet mit der Deutschen Welle zusammen. Zuvor war er Berlin-Korrespondent der Polnischen Presseagentur sowie Warschau-Korrespondent der DPA.

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