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Politische Gesten und die deutsch-polnischen Beziehungen

Die Politik der Gesten

Politiker griffen immer schon gern auf die große öffentliche Geste zurück, wenn sie eine außenpolitische Richtungsänderung herbeiführen wollten, besonders in Augenblicken der Krise. Hier wollen wir uns auf solche Gesten konzentrieren, die guten Willen zum Ausdruck brachten und signalisierten, einen Dialog anknüpfen zu wollen. Die Reaktion der Gesellschaft war nicht immer positiv. Die große Geste verlangte dem Staatsmann oft bemerkenswerte Zivilcourage ab. Ihr politischer Preis konnte hoch sein, selbst wenn sie in Zeiten ohne unablässige Meinungsforschung getan wurde. Ihr Kontext war häufig eine innen‑ oder außenpolitische Konfliktlage, daher wurde sie nach Form und Inhalt nicht immer von den Wählern unterstützt. Bei der Entscheidung dazu ließen sich Politiker von verschiedenen Beweggründen leiten. Wäre es heute nicht an der Zeit für eine neue große Geste? Das kommende Jahr wäre eine passende Gelegenheit dazu, denn einmal mehr wird es eine ganze Reihe von historisch gewichtigen Jahrestagen geben.

 

Aus der jüngsten Zeit sind viele Gesten bekannt, die in die Geschichte eingegangen sind. Beispiele dafür finden sich in den deutsch-französischen ebenso wie in den deutsch-polnischen Beziehungen. Bei letzterem fallen einem augenblicklich zwei besonders bemerkenswerte Vorgänge dieser Art ein. Zum einem der Kniefall Bundeskanzler Willy Brandts vor dem Denkmal der Ghettohelden in Warschau sowie das Friedenszeichen Kanzler Helmut Kohls gegenüber dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki während der Messfeier in Kreisau. Zwischen diesen beiden Gesten bestand jedoch ein großer Unterschied. Die erstere erfolgte spontan und traf alle unvorbereitet. Sie verlangte Brandt große Zivilcourage ab. Diese präzedenzlose Handlungsweise ihres Bundeskanzlers wurde nur von 41 Prozent der befragten Deutschen gutgeheißen, die meisten dagegen fanden sie verfrüht und schwer zu akzeptieren.

 

Politische Geste und Versöhnung

Brandts Handlungsweise war zweifelsohne Ausdrucksweise seines Wunschs, den Weg der deutsch-polnischen Versöhnung zu beschreiten. Ich möchte mich hier nicht auf die Diskussion einlassen, wen er bei seinem Kniefall eigentlich im Sinn hatte, die polnischen Bürger einschließlich der Juden oder nur die Juden (letzteres ist eine in der neueren deutschen Historiographie gelegentlich anzutreffende Interpretation). In der Realität der 1970er und 1980er Jahre mag es um die polnischen Staatsangehörigen im Allgemeinen gegangen sein, denn in der Bundesrepublik wurde erst sehr viel später diskutiert, wie ein eigenes Gedenken für die Holocaustopfer aussehen sollte.

 

Doch ist nicht jede politische Geste mit Versöhnungswillen gleichzusetzen. Für die Messe von Kreisau hat sich zwar die Bezeichung „Versöhnungsmesse“ eingebürgert, doch dafür gibt es keine zeitgenössische Bestätigung. Die Quellen zeigen, dass Kreisau zufällig ausgewählt wurde, und das Friedenszeichen wurde demonstrativ gegeben, während Mazowiecki es mit gemischten Gefühlen entgegennahm. Dem deutschen Kanzler verlangte es keinen großen Mut ab, und keine der von polnischer Seite vorgebrachten Sachfragen wurde damals gelöst.

Beiden Gesten gemeinsam war jedoch die Eröffnung einer neuen Etappe der deutsch-polnischen Beziehungen, und darin ist ihre Bedeutung zu sehen.

 

Historische Jahrestage 2019

In das Jahr 2019 fallen unterschiedliche historische Jahrestage von großer symbolischer Dimension. Darunter sind negativ konnotierte Jahrestage, welche die deutsch-polnische Konfliktgeschichte markieren. Doch es gibt auch positiv konnotierte Jahrestage. Zu den ersteren sind natürlich der 80. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs und der 75. Jahrestag des Warschauer Aufstands zu zählen. Zu den letzteren dagegen der 30. Jahrestag der Begegnung in Kreisau, der 20. Jahrestag des Beitritts Polens zur NATO und der 15. Jahrestag seines Beitritts zur Europäischen Union. Die Politik wird in beiden Ländern diese Jahrestage auf je eigene Art einsetzen. Möglicherweise werden die einen die „ewige deutsch-polnische Feindschaft“ herausstellen und auf die angeblich ungelösten Probleme der Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs verweisen. Andere dagegen werden vielleicht den Fokus auf den Umbruch von 1989 setzen und dessen positive Auswirkungen auf die deutsch-polnischen Beziehungen. Wir werden es also mit zwei einander ausschließenden Narrativen zu tun haben. Doch ist das die einzige Option? Werden neue politische Gesten gebraucht? Findet sich ein Staatsmann, der den Mut für eine Geste findet, die ein gemeinsames Narrativ ermöglicht und der Politik der Selbstisolation und der fortschreitenden Indifferenz gegenüber dem Nachbarn etwas entgegensetzt?

 

Das gemeinsame Europa als Herausforderung

Wenn nur der Wille dazu besteht, lassen sich die Jahrestage zu einem guten Ausgangspunkt dafür machen, über die Folgen der nationalen, ja nationalistischen Rivalität im Europa der späten dreißiger und der frühen vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts nachzudenken. Doch die Erinnerung an diese schrecklichen Ereignisse in den beiderseitigen Beziehungen sollte nicht den Blick auf das verstellen, was inzwischen erreicht wurde. Das lässt sich anhand des zweiten wichtigen zeitgeschichtlichen Jahrestages herausstellen, nämlich 1989 und die seitherigen Veränderungen. Polen und Deutschland sind wichtige Nachbarn in Europa, was sie verbindet, ist nicht allein eine intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern auch ein dichtes Netz verschiedener Organisationen und Institutionen der Zivilgesellschaft.

 

Doch Warschau und Berlin sehen sich heute ungeheuren Herausforderungen gegenüber, die sie nur gemeinsam bewältigen können. Dazu gehört die Weiterentwicklung der EU, Migrations- und Sicherheitsfragen, darunter der Bau der Nord-Stream-2-Pipeline oder generell der russischen Politik.

 

Der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU stellt Polen und Deutsche vor zusätzliche Probleme. In Kürze erfolgt die Aufteilung des Budgets für die folgenden Jahre. Warschau hat in erheblichem Umfang von europäischen Mitteln profitiert. Dass in Polen keine Diskussion über den Beitritt zur Gemeinschaftswährung in den nächsten Jahren geführt wird, kann sich negativ auf die Beziehungen zu Berlin und den Ländern der Eurozone auswirken. London fällt in der informellen Gruppe der sechs Innenminister der größten EU-Länder (G6) aus, die sich mit auch aus polnischer Sicht zentralen Fragen wie Sicherheit und Migration befasst. Ob Warschau die Gelegenheit nutzen wird, wieder eine aktivere Rolle in der EU zu spielen und die Führung innerhalb dieser Gruppe zu übernehmen, lässt sich heute noch nicht wirklich absehen. Aber es ist zu befürchten, dass es dazu nicht kommen wird.

 

Die Lehren aus den sich jährenden verhängnisvollen Ereignissen der gemeinsamen Geschichte sollten beide Länder davon überzeugen, welche Vorteile aus gutnachbarschaftlichen Beziehungen und unserer aktiven Rolle in der EU stammen. Vielleicht sollte das diesmal eine Geste von polnischer Seite ins Bewusstsein heben? Wer sollte sich allerdings in Anbetracht der in Polen zu hörenden Äußerungen dazu durchringen?

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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