Die Covid-19-Pandemie stellte Deutschland und Frankreich nicht nur als Staaten innerhalb der erschütterten globalisierten Welt auf die Probe, sondern sie belastete auch die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern in unerwartetem Ausmaß. Die Aussöhnung der Erzfeinde, die über Jahrzehnte hinweg entwickelte enge Kooperation und Absprache schienen zu Beginn der Corona-Krise plötzlich wie aus der Erinnerung gelöscht. Schwierige Situationen bedeuten für die Europäische Union und ihren deutsch-französischen Motor jedoch nicht zwangsläufig ein Desaster. Und so kommen auch in der Corona-Krise von beiden Rheinseiten Impulse hervor, um die bilateralen Beziehungen zu intensivieren und das europäische Projekt zu retten.
Man hätte sich gewünscht, dass sich Berlin und Paris angesichts der langen und ehrgeizigen Aussöhnungsarbeit zwischen Frankreich und Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs sowie der engen wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit zu Beginn der Corona-Krise Mitte März ganz reflexartig abstimmen, um effiziente Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie zu ergreifen. Bedauernswerterweise mussten wir neben den zahlreichen Einschränkungen und bestürzenden Nachrichten zu Covid-19 jedoch auch vernehmen, dass Franzosen in den eng kooperierenden Grenzregionen jenseits der seit Jahren immer unsichtbarer gewordenen Landesgrenzen auf einmal wegen ihrer Herkunft angefeindet werden.
Beleidigungen wie „Drecksfranzosen“ und „Scheiß-Corona-Land“ oder das Bewerfen mit Eiern wurden zwar von politischer Seite umgehend verurteilt. Allerdings hatten die Regierenden in Deutschland mit den nicht abgesprochenen Grenzschließungen das mittlerweile selbstverständlich gewordene Alltagsleben in den transnationalen Gebieten wie beispielsweise den Eurodistrikten entlang der deutsch-französischen Grenze von einem auf den anderen Tag quasi ausgemerzt. Franzosen im Grenzgebiet fühlten sich düpiert. Befand sich ihr Wohnort gerade noch in einem als „Labor Europas“ gepriesenen transnationalen Raum, standen sie auf einmal vor abgeriegelten Grenzübergängen, die mancherorts sogar Dörfer zweiteilten. Die noch offenen Grenzübergänge durften nur noch Warentransporte und Berufspendler passieren sowie einige Covid-19-Intensivpatienten, die von den überlasteten Krankenhäusern im Elsass in deutsche Kliniken verlegt wurden. Eine Geste der Solidarität, die dazu beitrug, das angekratzte Verhältnis etwas zu bessern.
Neben Enttäuschung, Misstrauen und Beleidigungen wurden die deutsch-französischen Beziehungen in der Corona-Krise auch durch einen neuen Neid auf Deutschland geprägt. Wieder einmal blickten die Franzosen neidvoll auf ihren östlichen Nachbarn, der nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 auch die Pandemie deutlich erfolgreicher bewältigte: weniger Todesfälle, keine Überlastung der Krankenhäuser, ein weniger drastischer Lockdown und folglich eine weniger hart getroffene Wirtschaft. So kehrte in Frankreich das „deutsche Modell“ wieder in die Debatte zurück. Am deutschen Krisenmanagement hatte sich die Regierung in Paris übrigens auch orientiert, als sie zu Beginn des Shutdowns das von Deutschland in der Finanzkrise 2008 erfolgreich eingesetzte Kurzarbeitskonzept einführte. Ob die Anwendung in Frankreich aber so effizient sein wird wie im Nachbarland, ist aus Sicht einiger Kommentatoren angesichts der Macht der Gewerkschaften und der Arbeitsmentalität noch nicht ausgemacht.
Dass nationale Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und zur Abfederung der wirtschaftlichen Konsequenzen wie Kurzarbeitergeld und Kredite für Unternehmen nicht genügen würden, um die Krise zu bewältigen, war Frankreich schnell klar. Gemeinsam mit seinen beiden südlichen Nachbarn Spanien und Italien, die ebenfalls zu den am heftigsten von der Covid-19-Pandemie betroffenen Ländern Europas zählen, und sechs weiteren EU-Staaten forderte es bereits im März ein Instrument zur gemeinsamen Verschuldung. In Berlin, wo mit einer enormen Finanzhilfe für die deutsche Wirtschaft – ermöglicht durch die behutsame Haushaltspolitik der vergangenen Jahre, so der Tenor der Bundesregierung – ein weiterer Alleingang beschlossen wurde, sind Corona-Bonds ebenso wie in den Niederlanden, in Schweden, Dänemark und Österreich allerdings ein Tabu. Während die Verhandlungen über Corona-Bonds auf EU-Ebene daher schnell feststeckten, zeigte der erst 2019 im Rahmen des von Angela Merkel und Emmanuel Macron unterzeichneten Aachener Vertrags eingerichtete deutsch-französische Rat der Wirtschaftsexperten Alternativwege zu einer Aufstockung gemeinsamer Schulden auf. Ihre Empfehlungen umfassen eine zusätzliche Kreditlinie des ESM, neue EU-Darlehen und einen gemeinsamen Investitionsfonds.
Da ohne deutsch-französische Einigung in der EU bekanntlich nichts läuft, wurde vielfach auf einen gemeinsamen Impuls von Berlin und Paris gedrängt, der die rasche Aussetzung der Maastricht-Kriterien und die umfassende Ausweitung der EZB-Anleihekäufe durch eine wirklich solidarische Initiative ergänzt. In diesem Sinn haben die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident am 18. Mai einen Vorschlag für ein EU-Hilfspaket in Höhe von 500 Milliarden Euro zur Unterstützung von besonders stark von der Corona-Krise betroffenen Regionen und Branchen vorgebracht. Dass Merkel zur Finanzierung des Programms erstmals eine gemeinsame Schuldenaufnahme an den Finanzmärkten akzeptiert, wertete man in Frankreich als Erfolg Macrons. Premier Édouard Philippe betonte sogar, dass die Bundeskanzlerin sich anerkennend für Macrons Reformpolitik gezeigt habe. Das dürfte aber nicht der einzige Grund für Merkels Entgegenkommen gewesen sein. Neben dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit der Anleiheaufkäufe der EZB, das die Kanzlerin in eine unbequeme Position brachte, wird auch die innenpolitische Situation in Deutschland eine Rolle gespielt haben: Schwächung der Oppositionsparteien FDP und AfD sowie gestärktes Vertrauen und erhöhte Zustimmung für Angela Merkel infolge des guten Krisenmanagements. Ebenfalls nicht außer Acht zu lassen ist die Tatsache, dass das Ausmaß der Wirtschaftskrise in Frankreich und weiteren EU-Ländern der exportorientierten deutschen Wirtschaft Sorgen bereitet. Prognosen zum Konjunktureinbruch in Deutschlands größtem Nachbarstaat belaufen sich mittlerweile auf bis zu 14 Prozent, was selbstverständlich enorme Auswirkungen auf die Abnahme von Importgütern hat.
Die Reaktionen auf das deutsch-französische Hilfsprogramm fielen entsprechend sowohl in Frankreich und Deutschland als auch seitens der EU-Institutionen und EU-Partnerländern weitestgehend positiv aus. „Paris und Berlin öffnen den Weg für europäische Solidarität“, lobte beispielsweise Théo Verdier, stellvertretender Vorsitzender der Europäischen Bewegung Frankreich. „Der deutsch-französische Kompromiss ist ein historischer Schritt auf dem Weg hin zu einem Europa mit der Fähigkeit zu wirtschaftlicher Solidarität, der sich angesichts des Ausmaßes der Gefahr jedoch als unzureichend erweisen könnte“, mahnt hingegen das Wochenmagazin Politis. Der Vorschlag von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der mit dem deutsch-französischen Konzept weitgehend übereinstimmt, stockt das Programm denn auch auf 750 Milliarden Euro auf. Den „Sparsamen Vier“ – Niederlande, Dänemark, Schweden und Österreich – geht die Gemeinschaftsfinanzierung erwartungsgemäß zu weit. Diskutiert werden muss zudem auch die Zuweisung der Gelder. Wohin sollen die Kredite und Zuschüsse fließen? Frankreich und Deutschland, das am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat, wollen sich um eine Einigung bemühen, um schnell voranzugehen, unterstrich Präsident Macron im Zusammenhang mit seinem Besuch beim niederländischen Premier Mark Rutte.
Während zahlreiche Stimmen auf die komplexen Verhandlungen, Debatten und Herausforderungen über die künftige Gestaltung der EU verweisen und Forderungen anbringen – etwa bezüglich sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Ausgestaltung der Zukunft der Union – heben andere den erneuten Erfolg der Kooperation zwischen Berlin und Paris hervor: „Nicht schlecht für ein Paar, das man kurz vor der Scheidung sah“, kommentierte Kolumnist Pierre Haski im Radiosender France Inter. Das Wirtschaftsblatt Les Echos sieht die EU dank der deutsch-französischen Initiative sogar auf dem Weg zu einer Supermacht, „die gegenüber China und USA ihren Rang behauptet und die als Antwort auf die globale Detonation der Covid-Krise ein politisches Projekt vorantreibt.“ Es sieht also so aus, als vermöge die Coronavirus-Pandemie der deutsch-französischen Kooperation und der EU einen deutlich kraftvolleren Impuls zu verleihen als die Finanzkrise von 2008.