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„Warum wollten die Deutschen unsere Landschaft zerstören?“

Natalia Prüfer im Gespräch mit dem Journalisten, Fotografen und Autor Filip Springer

Natalia Prüfer: Lassen Sie uns unser Gespräch mit einer kleinen Provokation beginnen. In Ihrem neusten Buch „Mein Gott, jak pięknie“ [Mein Gott, wie schön] schreiben Sie, die industrielle Revolution längs der Oder, im Ermland und in Masuren, also in einstmals zu Preußen gehörenden Gebieten, sei zwar ein geplanter und großer Vorgang gewesen, habe aber eine Apokalypse der Umwelt eingeleitet. Sie schreiben von Flussbegradigungen, von der Trockenlegung von Sümpfen, vom Eisenbahnbau und vom Bergbau, und das alles habe die Landschaft zerstört. Sie beziehen sich dabei auf die Umweltkatastrophe an der Oder, die wir 2022 erlebten. Sie als bekanntester Reporter und Fotograf Polens geben also deutschen Ingenieuren die Schuld an der Katastrophe? Das sage ich zwar mit einem Schuss Ironie, aber Sie verstehen schon, worum es mir geht…

Filip Springer: Hätte ich mich mehr in diesen Gedanken vertieft, hätte ich vielleicht ein ministerielles Stipendium für das Verfassen dieses Buches bekommen (lacht). Aber im Ernst, bei einer Lesung in Kędzierzyn-Koźle [dt. Kandrzin-Cosel in der Wojewodschaft Oppeln] wurde ich gefragt: „Warum wollten diese Deutschen bloß unsere Landschaft zerstören?“ Aber das Buch sollte nicht aus seinem historischen Kontext gerissen werden. Als die preußische Regierung die Entscheidung traf, die Oder zu regulieren, die Ostbahn zu bauen und noch weitere Maßnahmen zu treffen, von denen ich in meinem Buch schreibe, war das damals eine absolut fortschrittliche und moderne Denkweise. Das unterscheidet uns heute in unserem Umgang mit Landschaft von den damaligen Auftraggebern, Ingenieuren und Kartographen, dass ihnen die gewaltigen Folgen für die Umwelt gar nicht bewusst waren. So war es im 18. Jahrhundert, in der Zeit von Aufklärung, Rationalität, Entwicklung der Wissenschaften, industrieller Revolution, Dampfmaschinen, einer ganzen Reihe von Neuerungen, welche die Welt verändern und dem Menschen übermenschliche Fähigkeiten zu weiteren Veränderungen in die Hand geben sollten. Aus dem Rückblick lassen sich den Entscheidern von damals kaum Vorwürfe machen. Wenn mir uns mit unserem heutigen Wissen über die katastrophalen Folgen für die Umwelt immer noch in der Gedankenwelt der industriellen Revolution und Aufklärung bewegen, zeugt das schlecht von uns, nicht von den Menschen damals. Schließlich beschränkt sich das Problem auch nicht auf eine Nationalität. Ich erzähle von den Anfängen des Anthropozäns am Beispiel Preußens und Deutschlands, weil das eine Möglichkeit der Veranschaulichung ist, aber das heißt nicht, Preußen und Deutschland hätten das Anthropozän verursacht. Ähnlich ließe sich von den Folgen der industriellen Revolution für die Umwelt am Beispiel Englands, Russlands oder Galiziens erzählen. Ich beschreibe die Gebiete des damaligen Preußen, weil mich diese Region gerade interessiert. Ich weiß so ungefähr, wer meine Bücher liest und in welcher Auflage sie sich verkaufen, also gehe ich mal davon aus, keinen diplomatischen Eklat auszulösen.

Sicher haben Sie Karolina Kuszyks Buch „In den Häusern der anderen“ gelesen. Was halten Sie davon im Kontext Ihrer eigenen Erzählung von den „Wiedergewonnenen Gebieten“?

Ich war mit der Arbeit an „Mein Gott…“ schon ziemlich weit, als ich Karolina Kuszyks Buch las. Am Anfang war ich sogar ein bisschen beunruhigt. Aber ich merkte schnell, dass sich die Autorin eher mit etwas befasste, was mich schon von Anfang an nicht mehr interessierte. Kuszyk schreibt von den deutschen Hinterlassenschaften im Kontext der Grenzneuziehung nach 1945 im Hinblick auf Demographie, Gesellschaft und darauf, wie die Zeitgenossen darauf reagierten, was sie jeweils am Ort vorfanden. Daran habe ich rasch das Interesse verloren. Natürlich habe ich in meinem Buch „Miedzianka“ [dt. Ausgabe: Kupferberg. Der verschwundene Ort, Wien: Zsolnay, 2019] und auch in anderen Büchern ein wenig mit dieser Thematik der deutschen Hinterlassenschaften befasst, aber ich bin dieser Geschichten schon ziemlich überdrüssig, wie die Deutschen so überstürzt flohen, dass sie einen Teller mit warmer Suppe daließen, den die Polen noch auf dem Tisch fanden. Karolina Kuszyks Buch ist ganz ausgezeichnet, wenn es um die Zeit nach 1945 geht, um die Wahrnehmung, darum, was hinter den Dingen steckte, aber ihre Geschichte ist eine völlig andere als meine.

Ja, in Kuszyks Buch ist mehr die Rede von Gegenständen, von der polnischen Sicht und Mentalität. In „Mein Gott…“ schreiben Sie von der Landschaft und Natur. Ihr Buch ist sehr persönlich und melancholisch, meinem Eindruck nach auch traurig und pessimistisch? Sie schreiben von der Beschädigung der Natur durch den Menschen.

Es ist ein unglaublich trauriges Buch. Aber ich mag Bücher lesen, die keine klaren Antworten geben, ich hoffe, meine eigenen sind auch so. Wie Sie schon sagen, ist es fraglos ein sehr persönliches Buch. Es lag mir sehr am Herzen, als Idee, als Thema, mit dem ich mich befassen wollte, unbewusst schon seit Kindertagen. Als Kind dachte ich nicht daran, ein Buch über die von den Deutschen zurückgelassene Landschaft zu schreiben, aber das war etwas, was mir nie Ruhe ließ. Vielleicht habe ich mich mit meinem ersten Buch „Miedzianka“ irgendwie davor gedrückt, „Mein Gott, jak pięknie“ zu schreiben. Auch meine Konzeption von Kraina [„Land“] ist sehr persönlich, wie ich sie am Anfang des Buches erkläre. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um eine nur von mir empfundene neurologische Störung handelt. Vielleicht sind andere davon nicht betroffen? Das war eine ziemlich riskante Konzeption.

„Darauf beruht Kraina – auf dem sensiblen Berührungspunkt zwischen dem Menschlichen und dem, was außerhalb des Menschen ist. So als ob jemand mit der Hand die Landschaft betrachten würde“ [Springer, Mein Gott, S. 9] – das ist Ihre Definition. Jeder von uns trägt sicher einen solchen Ort in sich.

Ich begann die Arbeit an dem Buch mit einer solchen affirmativen Einstellung: Diese vormals deutsche Landschaft tut mir gut, ich betrachte sie gern, ich fühle mich bestens darin, ich liebe es, durch sie zu wandern. Ich dachte, ich lese ganz viele kluge Bücher und bringe in Erfahrung, wieso die Deutschen so und nicht anders bauten, ihre Architektur und ihre Städte entwarfen. Doch bei meinen Erkundungen stellte sich heraus, dass die Instrumente, welche die Landschaft in ihre heutige Gestalt versetzt haben, Instrumente der Kontrolle und der Gewalt vom Anfang der industriellen Revolution sind und dass darauf das Anthropozän zurückgeht. Das war für mich eine ganz schlimme Erkenntnis, mit der ich mir völlig den Spaß verdarb. Statt schöne Häuser und harmonisch angelegte Straßen zu beschreiben, fand ich mich an Orten wieder, die mir am Beispiel Preußens erklären können, wie das Anthropozän aufkam, welche Ideen dahintersteckten. Das ist eine ganz deprimierende Geschichte. Natürlich lässt sich immer sagen, die Natur komme ohne uns aus, aber das ist nicht ganz richtig. Mit unserer Aktivität auf Erden haben wir viele Wege der Evolution abgeschnitten. Wir haben den Planeten umgestaltet, ihn um viele Gattungen ärmer gemacht. Wir haben vieles unwiederbringlich zerstört.

Das Thema Anthropozän, also die von Teilen der Wissenschaft angestellte Vermutung, wir lebten in einem geologischen Zeitalter, das durch die zerstörerische Tätigkeit des Menschen definiert ist, und die Ökologie, sind wichtige Aspekte Ihrer Arbeit, nicht nur in Ihrem jüngsten Buch. In einem Interview sagten Sie, Sie sähen statt eines Waldes Holzanbau für die Möbelindustrie. Dieser Satz geht mir nicht aus dem Sinn, und ich frage mich, was es bringt, so zu denken? Wir haben den Planeten zerstört, das Ende ist nah… Wie sollen wir mit einer solchen Einstellung leben?

Mein Bekannter, der Dichter und Ökologe Michał Książek, der eine ordentliche Ausbildung als Forstwirt gemacht hat, sagte mir letztens, das Narrativ von der zerstörten Landschaft erinnere an das Narrativ des ehemaligen polnischen Ministers für Umweltschutz Jan Szyszko, dessen Auffassung nach sich nichts mehr tun lasse, also könnten die Wälder genauso gut gefällt werden. Dagegen meine ich, wir sollten nur einfach den Blütentraum von der unberührten Urlandschaft aufgeben, die es nirgends mehr gibt, und damit müssen wir uns abfinden. Es ist schon alles verändert: wir, die Wälder, die Luft, die wir atmen. Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht darauf besinnen sollten, noch ein bisschen Platz für andere Bewohner unseres Planeten zu lassen. Selbst wenn dieser umgewandelt ist. Hier kommen wir zum Begriff der „Natur der vierten Art“ des deutschen Ökologen Ingo Kowarik, womit eine umgewandelte Landschaft gemeint ist, beispielsweise Städte oder Industriebrachen. Diese Natur der vierten Art ist auch wichtig, in ihr kann ebenfalls Biodiversität bestehen. Der Białowieża-Urwald, da ich schon einmal davon spreche, ist auch durch den Menschen verändert, doch bewahrt er immer noch ein hohes Maß an Biodiversität, und das ist das Wichtigste. Biodiversität lässt sich wieder herstellen, doch das ist schwierig und kostenintensiv. Es geht mir nicht darum, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten, sondern eine realistische Einstellung zur Lage zu gewinnen. Es lohnt sich zu kämpfen. „Die ökologische Krise ist eine Krise der Vorstellungskraft“, schrieb Lawrence Bull. Wir haben das Know-how und das ganze Instrumentarium, um mit der Zerstörung des Planeten aufzuhören, doch aus unerfindlichen Gründen hören wir nicht auf. Wir reden viel darüber, aber das Einzige, was wir schaffen, ist, das Tempo des Emissionszuwachses zu verringern. Nicht der Emissionen, nur das Tempo des Zuwachses. Das ist beängstigend.

Sie sind Mitbegründer der Schule für Ökopoetik am Institut für Reportage in Warschau. Wird genau das dort gelernt? Das Schreiben und Sprechen von der Natur, der Natur der vierten Art, der Ökologie?

Nein, ganz und gar nicht. Die Ökopoetik ist, wie jede Poetik, ein Satz von Instrumenten zur Formulierung einer Aussage. Wir versuchen, gemeinsam mit den Studierenden einen solchen Satz aus ökokritischer Reflexion zu entwickeln. Diese wiederum hat dieselbe Vorgehensweise wie die feministische Kritik oder die Gender Studies: Diese untersuchen die Realität vermittels Genderfragen, während die Ökopoetik dies vermittels Fragen an das Verhältnis zwischen Mensch und außermenschlicher Natur tut. Dieses Verhältnis wird in verschiedenen kulturellen Texten beschrieben. Wir gehen davon aus, dass in der Literatur Dinge geschehen, die verschiedentlich andernorts durchsickern, und auch wenn sich das nicht messen lässt, bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Ökopoetik ihren Sinn hat.

Kann uns Literatur Ihrer Meinung nach zu einer umweltbewussteren Lebensweise bewegen?

Ich weiß nicht, ob zu einer umweltbewussteren, aber gewiss zu einer komplexeren Lebensweise, was ökologische Folgen hat. Das Wort Öko an sich hat inzwischen ein gewisses Geschmäckle, alles und jedes ist Öko. Das Wort Poetik ist auch problematisch, denn nicht viele wissen, was das eigentlich ist. Uns, den Gründern der Schule für Ökopoetik, schwebt eine Literatur vor, die von Liebe oder Vaterschaft erzählt, von was auch immer, das diejenigen Sichtweisen einbezieht, die uns bewusster auf das Verhältnis zwischen Mensch und außermenschlicher Natur blicken lassen. Das hat ökologische Folgen, aber ich kann sie nicht messen. Übrigens gibt es nichts Schlimmeres als eine Literatur, deren Wirkung sich messen lässt.

Sie wie auch der Karakter-Verlag, bei dem „Mein Gott…“ erschienen ist, betonen, das Buch sei keine Reportage. Wieso ist diese Information für den Leser relevant?

Weil ich von der Reportage herkomme und damit assoziiert werde. Ich schreibe Reportagebücher, ich arbeite am Institut für Reportage, man nennt mich einen Reporter. Dieses Buch weckt den Eindruck, eine Reportage zu sein. Doch die an eine Reportage erinnernden Abschnitte sind es nicht wirklich, und umgekehrt, diejenigen, die wie Fiktion aussehen, müssen es nicht sein. Es ist hier alles miteinander vermengt, mit Daten versetzt, Geschichte, Orte, historische Gestalten treten in Erscheinung. Das führt zu dem Irrtum, dieses Buch sei so etwas wie eine historische Darstellung, doch das ist es nicht. Ich habe kein Bedürfnis, meinem Text eine Bezeichnung zu geben, ich bin kein Literaturwissenschaftler, aber ich spüre das Bedürfnis, den Leser nicht in die Irre zu führen. Ich wollte Missverständnisse vermeiden, doch leider treten sie manchmal ein, denn für einige ist es schon zu viel, den Klappentext zu lesen.

Wie auch immer, Ihre Recherchen für das Buch waren ziemlich umfassend, das Literaturverzeichnis ist sehr lang. Joanna Strzałko hat eine Unmenge an Dokumenten aus dem Deutschen ins Polnische übersetzt. Sie sprachen mit vielen, mit Fachleuten auf Gebieten wie Lithographie und Fotografie. Wie lange hat es gebraucht, um das Buch erscheinen zu lassen, und was war dabei am schwierigsten?

Ich kann nicht sagen, wie lange das gedauert hat. Die Idee zu dem Buch kam mir schon lange vor meinem Erstlingswerk „Kupferberg“, also vor ungefähr dreizehn Jahren, und meine anderen Bücher lieferten praktisch die Vorarbeit für „Mein Gott…“. Doch die eigentliche Arbeit daran dauerte über vier Jahre. Im Jahr vor dem Ausbruch der Pandemie begann ich mit dem Reisen und der Dokumentation, und Joanna Strzałko arbeitete bereits an der Übersetzung der Dokumente. Am schwierigsten war, die Auswahl zu treffen. Ich erinnere mich an ein Treffen mit dem Karakter-Verlag, bei dem wir ernsthaft überlegten, ob wir nicht drei bis fünf Bände machen sollten. Das Buch hat aber auch so etliche Themen angerissen, an denen ich weiterarbeiten werde, aber ich werde Ihnen jetzt nicht sagen, welche Themen das sind, das behalte ich mir für die Zukunft vor.

Die Materialauswahl war also schwierig, aber die Lektüre ist auch nicht gerade leicht. „Mein Gott…“ verlangt Konzentration und Interesse…

Das ist überhaupt interessant! Keines meiner Bücher hat bei Lesungen derartige Skepsis ausgelöst! Ich bekomme oft zu hören: „das ist kein einfaches Buch“, „man muss sich schon konzentrieren“, aber natürlich bin ich ganz derselben Meinung.

Bei einem Gespräch mit Ihnen meinte Wojciech Szot, Sie hätten das Buch nur für sich und vielleicht noch zehn Bekannte geschrieben.

Ich schreibe immer für mich selbst. Es ist nicht meine Aufgabe, dem Leser ein gutes Gefühl zu verschaffen. Ich nehme meiner Leserinnen und Leser ernst und meine, meine Aufgabe besteht darin, sie aus ihrer Komfortzone herauszuholen, ihnen ein gewisses Unbehagen zu bereiten, sie zu zwingen, ihre Vorstellungsgabe zu benutzen. Ich denke, das erwarten wir von guter Literatur, und das bedeutet nicht, dass wir uns am Ende immer wohlfühlen werden. „Mein Gott…“ hat auch kein Happy End.

Das ist Ihnen gelungen, auch mich haben Sie aus der Komfortzone herausgeholt, zudem sind die polnischen Namen der beschriebenen Orte nicht angegeben, stattdessen nur die deutschen, und es gibt auch keine Karte der Region, in der Sie sich im Wort‑ wie im übertragenen Sinne bewegen, keinen Hinweis, was alles noch komplizierter macht. Ist das ein gezielter Kunstgriff? Manchmal hatte ich den Eindruck, Sie wollten einem das Lesen so noch weiter erschweren.

So hatte ich es von Anfang an entschieden, in der Redaktion haben wir darüber gar nicht diskutiert. Es lag mir nicht eigens daran, dass Leserinnen und Leser wissen, wo ich gerade bin. Solange sie wissen, ich bin irgendwo an der Ostbahn, in der Umgebung von „Bromberg“ oder an der „Weichsel“, wissen sie, dass wir unweit von Bydgoszcz oder an der Wisła sind. Wenn sie es nicht wissen, dann schauen sie es eben nach. Und wenn sie das schon einmal tun, werden ihnen im Internet sofort historische Fotos dieser Orte gezeigt. Auf die Art besuchen wir die Orte in jener Zeit. Die deutschen Namen dieser Orte zu benutzen und historische Fotos anzuschauen, versetzt mich automatisch in das zivilisatorische Universum, über das ich schreibe. Bereits über diese Gebiete in der deutschen Version zu denken, bringt uns dazu, sie anders zu sehen. Mir ging es so, als ich mit alten deutschen Karten durch die Region fuhr, und ich wollte, dass meine Leser dieselbe Erfahrung machen. Ich dachte nicht über den Austausch der Nationalitäten nach, was in meinem Kontext keine Rolle spielte. Die deutschen Namen und das Fehlen einer Karte bewirken überdies, dass man sich in diesem Buch verlieren kann, ganz so wie ich mich in der Gegend verlor, als ich daran arbeitete. Und außerdem… wenn wir einen australischen oder amerikanischen Roman lesen, überprüfen wir dann wie besessen auf der Landkarte, wo sich die Handlung abspielt? Wir brauchen nur irgendein Universum, und die deutschen Ortsnamen liefern es uns. Noch dazu gibt es eine Vielzahl von Stereotypen, mit denen wir die polnischen Namen assoziieren, das fällt weg, wenn der polnische Leser die Namen auf Deutsch liest.

Das konfrontiert den Leser mit der Geschichte und erinnert ihn daran, dass diese Städte vor achtzig Jahren noch deutsch waren, so kommen wir doch wieder auf Karolina Kuszyks Buch „In den Häusern der anderen“ zurück. Wir sprechen über Städte, dabei wollte ich doch auf die Natur und die Landschaft zurückkommen, die polnische wie die deutsche. In einem Interview sagten Sie einmal von den Polen und ihrer Einstellung zur Landschaft: „Wir sehen sie nicht als Teil der Kultur. […] Landschaft und Architektur gehören für uns nicht zur Kultur. Vielleicht müssen wir keine eigene Kraina besitzen, woraus dann hervorgeht, dass wir uns um sie kümmern müssen?“ Woher kommt das Ihrer Meinung nach, und schaffen es die Deutschen, die Landschaft zu pflegen?

Sie schaffen es, und diese Antwort löst immer einen Shitstorm in den Kommentaren aus: Das kommt von der Seichtigkeit der polnischen Kultur. Die deutsche Kultur ist tiefer, hat solidere Grundlagen, ist sich selbst sicherer, dreht sich nicht ständig um die eigene Identität. Sie hat einen ungemeinen Beitrag zur Geschichte der europäischen Philosophie, Dichtung, Literatur und allen anderen Bereichen geleistet, und Polen hat das nicht. Daher kommt auch der Umgang mit der Landschaft. Die ganze Art und Weise, in der im 19. und frühen 20. Jahrhundert Preußen und Deutschland Landschaft gestalteten, kommt von einem tiefen Bewusstsein dieser Kultur. Die Architektur ist bei den Deutschen ein kultureller Text. Wie wir eine Stadt oder Siedlung entwerfen, sagt etwas über uns aus, zum Beispiel zu welchen Werten wir uns bekennen, was uns wichtig ist…

Die imponierenden, nicht mehr genutzten Industriebauten in Deutschland werden restauriert und in Museen, Kulturzentren oder Hotels umgewandelt, sie sollen weiter den Menschen dienen.

Ja, weil diese Bauten etwas über sie selbst sagen, sie sind kulturelle Texte, während die Bauten in Polen unser physiologisches Bedürfnis befriedigen sollen, dass es uns nicht aufs Haupt regnet. Ein Symptom dafür, wie sehr uns in Polen an der Landschaft gelegen ist, ist das unverputzte Haus. Vor dem Haus steht das teure Auto oder der Mähdrescher, das Haus erfüllt seine Funktion und muss dazu nicht verputzt sein. Und da haben wir den wesentlichen Unterschied.

Verhält es sich mit der Landschaft in Polen ein wenig so, wie mit der Architektur in volkspolnischer Zeit, von der Sie häufig schreiben? Dass wir dem Kommunismus die Schuld geben, aber es uns nicht interessiert, wie seine Hinterlassenschaften zu berichtigen seien, man kann nur mit der Schulter zucken und weiter aufs Geratewohl und planlos vor sich hinbauen?

Vor zehn Jahren hätte ich die Frage bejaht. Heute nicht mehr, denn es gibt immer mehr Belege dafür, dass Menschen ein Gespür für den Wert der deutschen Hinterlassenschaften besitzen, wenn sie zum Beispiel eine Pension in einem alten deutschen Mietshaus eröffnen. Das hängt natürlich auch mit dem Kapital zusammen, aber vorläufig können wir mal von einer positiven Entwicklung ausgehen. In Breslau, Posen, Stettin wohnen die Leute inzwischen lieber in einem alten Mietshaus als im Plattenbau, da hat sich in Polen so eine Art Snobismus eingestellt. Übrigens gilt die moderne Architektur der Nachkriegszeit schon länger als wertvoll. Ich lernte einmal einen reichen polnischen Unternehmer kennen, der in der Umgebung von Jelenia Góra [Hirschberg] Palais restauriert, und Investoren engagieren ihn, um vormals deutsche, alte, aufgelassene Villen oder Palais restaurieren zu lassen, weil er sich auskennt, wie das alles denkmalpflegerisch richtig zu machen ist. Er erzählte mir, noch vor zehn Jahren, als sie während einer solchen Restauration „deutsche Schätze“ fanden, also Dinge, die im letzten Augenblick in Wänden oder Kaminen versteckt worden waren, zum Beispiel ein Kasten mit Dollars oder kostbare Tassen und Löffel, da wurde das über Allegro [eine eBay entsprechende Verkaufsplattform in Polen; Anm. d. Autorin] verkauft. Jetzt verkaufen sie diese Dinge nicht mehr, sondern mauern sie wieder ein. Das hat weiter keinen Zweck, niemand kommt mehr, das abzuholen, aber es ist die reine Poesie. Diese Gegenstände werden dort für immer bleiben, das hat überhaupt keinen Sinn, und das ist daran das Schönste.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Ich danke auch.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Filip Springer

Schriftsteller und Fotograf. Autor zahlreicher Reportagezyklen und Bücher, darunter: Miedzianka. Historia znikania [Kupferberg im Riesengebirge. Geschichte eines Verschwindens], Wołowiec: Czarne, 2011 (dt. Ausgabe: Kupferberg. Der verschwundene Ort, übersetzt von Lisa Palmes, Wien: Zsolnay, 2019); Wanna z kolumnadą. Reportaże o polskiej przestrzeni [Wanne mit Säule. Reportagen über den polnischen Raum], Wołowiec: Czarne, 2013; 13 pięter [13 Stockwerke], Wołowiec: Czarne, 2015; Miasto Archipelag. Polska mniejszych miast [Stadt Archipelago. Das Polen der Kleinstädte], Kraków: Karakter, 2016; Źle urodzone. Reportaże o architekturze PRL-u [Schlecht geboren. Reportagen über die volkspolnische Architektur], Kraków: Karakter, 2011 (dt. Ausgabe: Kopfgeburten. Architekturreportagen aus der Volksrepublik Polen, übersetzt von Lisa Palmes, Berlin: DOM publishers, 2015). Stipendiat des Nationalen Kulturzentrums, der Ryszard-Kapuściński-Stiftung „Herodot“ und der Stadt Warschau. Nominiert für die wichtigsten polnischen Literaturpreise. Seine Bücher wurden übersetzt ins Englische, Deutsche, Russische, Tschechische, Ungarische und Chinesische.

Mitarbeit am Institut für Reportage in Warschau, Mitbegründer des Literaturfestivals MiedziankaFest und Miedzianka po drodze (Kupferberg unterwegs). Im März erschien im Verlag Karakter sein neustes Buch „Mein Gott, jak pięknie“, in dem er die Odergebiete beschreibt, den Bau der Ostbahn und die Geschichte der polnischen Dokumentarfotografie.


Natalia Staszczak-Prüfer ist Theaterwissenschaftlerin, freiberufliche Journalistin und Übersetzerin.

 

Gespräch

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Ein Gedanke zu „„Warum wollten die Deutschen unsere Landschaft zerstören?““

  1. Das Thema ist interessant, leider ist die Überschrift nicht passend. Die Deutschen müssen als Beispiel der Umweltveränderungen in „unserem Polen „ dienen. Es geht doch um den Gedankenlosen Umgang mit der Natur oder habe ich den Text falsch verstanden.

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